Die Eisprinzessin schläft
manches. Ich wollte ihnen ihren Papa nicht wegnehmen.«
»Aber etwas ist passiert.« Erica half Anna auf die Sprünge. Sie sah, wie schwer ihr das Erzählen fiel. Auch Annas Stolz war verletzt worden, und die Schwester war immer eine ungemein stolze Person gewesen, die Fehler nur ungern zugab.
»Ja, etwas ist passiert. Gestern abend fiel er über mich her, wie er es zu tun pflegte. Übrigens immer öfter in letzter Zeit. Aber gestern .« Anna versagte die Stimme, und sie schluckte ein paarmal, um das Weinen zu unterdrücken. »Gestern ist er über Emma hergefallen. Er war so wütend, und sie kam mittendrin ins Zimmer, und er konnte sich nicht zügeln.« Anna schluckte erneut. »Wir fuhren zur Notaufnahme, und dort stellte man fest, daß sie einen Riß im Arm hat.«
»Ich nehme an, Lucas wurde angezeigt?« Erica fühlte den Zorn wie einen harten Knoten im Magen, und dieser Knoten wurde immer größer.
»Nein.« Die Antwort kam fast unhörbar über Annas Lippen, und Tränen liefen ihr über die bleichen Wangen. »Nein, wir haben gesagt, daß sie auf der Treppe gefallen ist.«
»Aber mein Gott, haben die das wirklich geglaubt?«
Anna lächelte schief. »Du weißt doch, wie charmant Lucas sein kann. Er hat den Arzt und die Schwestern völlig eingewickelt, und sie haben ihn fast genauso bedauert wie Emma.«
»Aber Anna, dann mußt du ihn anzeigen. Du kannst ihn doch nicht so davonkommen lassen?«
Sie sah ihre weinende Schwester an. Das Mitleid konkurrierte mit dem Zorn. Anna wurde ganz klein vor ihrem Blick.
»Das wird nie wieder passieren, dafür werde ich sorgen. Ich habe so getan, als würde ich mir seine Entschuldigungen anhören, und sobald er zur Arbeit gegangen ist, habe ich das Auto vollgepackt und bin losgefahren. Ich habe nicht die Absicht, je wieder zu ihm zurückzugehen, Lucas wird den Kindern nicht mehr weh tun können. Wenn ich ihn angezeigt hätte, wäre bestimmt das Jugendamt eingeschaltet worden, und dann hätten sie uns vielleicht beiden die Kinder weggenommen.«
»Aber Lucas wird dir die Kinder nie stillschweigend überlassen, Anna. Ohne eine Anzeige und die notwendige Ermittlung, ja, wie willst du da zum Beispiel durchdrücken, daß du allein das Sorgerecht bekommst?«
»Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht, Erica. Im Moment bin ich nicht fähig, darüber nachzudenken, ich mußte nur einfach weg von ihm. Das andere muß später gelöst werden. Bitte, schimpfe mich jetzt nicht aus!«
Erica stellte ihre Tasse auf den Tisch, stand vom Stuhl auf und legte die Arme um ihre Schwester. Sie strich ihr übers Haar, während sie ihr zugleich beruhigend zumurmelte. Sie ließ Anna sich an ihrer Schulter ausweinen und fühlte, wie der Pullover immer feuchter wurde. Ihr Haß auf Lucas nahm noch zu. Liebend gern würde sie dem Scheißkerl eine verpassen.
Birgit lugte auf die Straße, versteckt hinter der Gardine. KarlErik sah an ihren hochgezogenen Schultern, wie angespannt sie war. Seit man von der Polizei angerufen hatte, war sie ängstlich hin und her gewandert. Er selbst hatte zum erstenmal seit langem Ruhe verspürt. Karl-Erik hatte beschlossen, dem Beamten auf alles zu antworten - wenn er nur die richtigen Fragen stellte. All die Geheimnisse hatten so viele Jahre lang in ihm geschwelt. Irgendwie war es für Birgit leichter gewesen. Um mit der Situation fertig zu werden, hatte sie sich eingeredet, daß all das nicht passiert sei. Sie weigerte sich, darüber zu reden, und flatterte weiter durchs Leben, als wäre nichts geschehen. Aber es war geschehen. Und kein Tag war vergangen, ohne daß er nicht daran gedacht hatte, und von einem Mal zum anderen war ihm die Bürde schwerer erschienen. Er wußte, daß es nach außen den Eindruck machte, als sei Birgit die stärkere von ihnen. Bei allen gesellschaftlichen Anlässen glänzte sie wie ein Stern am Himmel, während er neben ihr grau und unsichtbar wirkte. Sie trug ihre schönen Kleider, ihren teuren Schmuck und ihr Make-up wie einen Panzer.
Wenn sie nach einem weiteren glitzernden, fröhlichen Abend ins Haus zurückkamen und sie ihre Rüstung ablegte, war es, als würde sie zu einem Nichts zusammenschrumpfen. Das einzige, was übrigblieb, war ein zitterndes, unsicheres Kind, das sich schutzsuchend an ihn klammerte. Während ihrer ganzen Ehe hatten ihn die verschiedensten Gefühle in bezug auf seine Frau hin und her gerissen. Ihre Schönheit und Zerbrechlichkeit weckten seine Zärtlichkeit und seinen Beschützerinstinkt, der Mann in ihm war
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