Die Eisprinzessin schläft
schneiden. Ich fühle mich widerwärtig und schmutzig.« Mit der freien Hand strich sie sich zitternd über die Brust, wie um zu zeigen, wo das Schlimme saß.
»Das ist nicht unnormal, Anna. Du brauchst dich nicht zu schämen. Jetzt mußt du nur alles tun, damit es dir wieder besser geht.« Sie legte eine Pause ein. »Nur eins ist nötig, du mußt Lucas anzeigen.«
»Nein, Erica, nein, ich kann nicht.« Die Tränen liefen ihr über die Wangen, und ein paar Tropfen blieben am Kinn hängen, bevor sie hinunterfielen und feuchte Flecke auf dem Tischtuch hinterließen.
»Doch, Anna, du mußt. Du kannst ihn nicht einfach so davonkommen lassen. Sag nicht, daß du selber damit leben kannst, daß er deiner Tochter fast den Arm gebrochen hat, ohne dafür zur Verantwortung gezogen zu werden!«
»Nein, ja, ich weiß nicht, Erica. Ich kann nicht klar denken, es ist, als wäre mein Kopf voller Watte. Ich kann im Moment nicht darüber nachdenken, vielleicht später.«
»Nein, Anna. Nicht später. Jetzt. Später ist zu spät. Du mußt es jetzt tun. Ich begleite dich morgen zum Polizeirevier, aber du mußt es tun, nicht nur wegen der Kinder, sondern auch wegen dir.«
»Ich bin nur nicht sicher, ob ich die Kraft dazu habe.«
»Du hast sie, ich weiß es. Im Unterschied zu dir und mir haben Emma und Adrian eine Mama, die sie liebt und die bereit ist, alles für sie zu tun.« Sie konnte nicht verhindern, daß Bitterkeit in ihrer Stimme mitklang.
Anna seufzte. »Du mußt dich davon frei machen, Erica. Ich habe seit langem akzeptiert, daß wir eigentlich nur Papa hatten. Ich habe auch aufgehört, darüber nachzugrübeln, warum das so war. Was weiß ich? Vielleicht wollte Mama keine Kinder? Vielleicht waren wir nicht die Kinder, die sie haben wollte? Wir werden es jetzt nie mehr erfahren, und es bringt nichts, die Sache ständig wiederaufzurollen. Aber ich war ja auch die von uns, die das meiste Glück hatte. Weil du da warst. Vielleicht habe ich dir das nie gesagt, aber ich weiß, was du für mich getan hast und wie wichtig du für mich in der Kinderzeit warst. Du hattest niemanden, Erica, der sich statt Mama um dich gekümmert hätte, doch du darfst nicht bitter werden, versprich mir das. Glaubst du etwa, ich sehe nicht, daß du dich sofort zurückziehst, wenn du jemanden kennenlernst, mit dem es ernst werden könnte? Bevor du Gefahr läufst, ernstlich verletzt zu werden. Du mußt lernen, die Vergangenheit loszulassen, Erica. Es scheint, als hättest du im Moment was richtig Gutes laufen, und du darfst es diesmal nicht einfach wieder sausenlassen. Ich will ja schließlich irgendwann mal Tante werden.«
Jetzt lachten sie beide unter Tränen, und Erica war an der Reihe, sich mit der Serviette zu schneuzen. All die Gefühle im Raum ließen das Atmen schwer werden, aber zugleich war es, als bekomme die Seele einen Frühjahrsputz verpaßt. Es gab so viel Unausgesprochenes, so viel Staub in den Ecken, und sie spürten beide, daß es Zeit war, den Kehrbesen zur Hand zu nehmen.
Sie redeten die ganze Nacht, bis die Winterdunkelheit vom grauen Morgendunst verdrängt wurde. Die Kinder schliefen länger als üblich, und als Adrian schließlich mit durchdringendem Geschrei zu erkennen gab, daß er wach war, bot Erica an, sich am Vormittag um die Kleinen zu kümmern, damit Anna noch ein paar Stunden schlafen konnte.
Ihr war leichter zumute als je zuvor. Natürlich bedrückte sie das noch immer, was Emma passiert war, aber Anna und sie hatten im Laufe der Nacht über vieles geredet, was schon seit langem hätte ausgesprochen werden müssen. Ein paar Wahrheiten, die sie gehört hatte, waren unangenehm gewesen, aber notwendig, und es erstaunte Erica, mit welcher Leichtigkeit die jüngere Schwester sie durchschaute. Erica mußte sich eingestehen, daß sie Anna wohl unterschätzt hatte, ja, daß sie manchmal vielleicht sogar etwas herablassend gewesen war und Anna nur als großes, verantwortungsloses Kind betrachtet hatte. Sie war viel mehr als das, und es freute Erica, die wirkliche Anna endlich zu sehen.
Sie hatten auch eine ganze Menge von Patrik geredet, und mit Adrian auf dem Arm meldete sich Erica jetzt bei ihm. Zu Hause ging er nicht an den Apparat, also versuchte sie es auf dem Handy. Anzurufen erwies sich als größere Herausforderung, als sie gewohnt war, da Adrian total entzückt von dem wunderbaren Spielzeug war, das sie da in der Hand hielt, und sich aufgeregt bemühte, es zu fassen zu bekommen. Als Patrik sich nach dem ersten
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