Die Eisprinzessin schläft
ebenfalls Ericas Interesse. Darin lagen ein paar zusammengeknüllte Seiten, und sie nahm den obersten Papierball heraus und glättete ihn behutsam. Sie las mit steigendem Interesse. Noch verblüffter als zuvor, legte sie das Blatt vorsichtig wieder zurück in den Korb. Nichts in dieser Geschichte war, wie es zu sein schien.
Sie hörte ein Räuspern hinter sich. Jan Lorentz stand in der Türöffnung und hob verwundert die Augenbrauen. Sie fragte sich, wie lange er wohl dort gestanden hatte.
»Erika Falck, nicht wahr?«
»Ja, das stimmt. Und du mußt Nellys Sohn Jan sein.«
»Auch das stimmt. Angenehm, dich kennenzulernen. Weißt du, in diesem Ort bist du Gesprächsthema.«
Er lächelte übers ganze Gesicht und kam ihr mit ausgestreckter Hand entgegen. Sie nahm sie nur widerstrebend. Irgend etwas an ihm bewirkte, daß sich die Härchen auf ihren Armen sträubten. Er hielt ihre Hand einen Augenblick zu lange. Sie mußte sich beherrschen, um sie nicht zurückzureißen.
In seinem sorgfältig gebügelten Anzug, einen Aktenkoffer in der Hand, sah er aus, als käme er direkt von einem Geschäftstreffen. Erica wußte, daß er jetzt das Familienunternehmen leitete - erfolgreich.
Seine Haare waren glatt nach hinten gekämmt, mit etwas zuviel Gel. Die Lippen waren ein wenig zu voll für einen Mann, aber die Augen mit den langen dunklen Wimpern waren schön. Wenn da nicht sein kantiger Unterkiefer mit der tiefen Furche im Kinn gewesen wäre, hätte er vermutlich sehr feminin gewirkt. Jetzt gab ihm diese Mischung von Eckigkeit und Fülle ein leicht sonderbares Aussehen, aber man konnte eigentlich nicht sagen, ob er attraktiv war oder nicht. Erica fand ihn abstoßend, aber das lag mehr an einem Gefühl, das sie in der Magengrube verspürte.
»Also Mutter ist es endlich gelungen, dich hierherzulocken. Du mußt wissen, schon seit dein erstes Buch erschienen ist, hast du ganz oben auf ihrer Wunschliste gestanden.«
»Ach so, ja, mir ist klar, daß man die Sache hier als Jahrhundertereignis betrachtet. Deine Mutter hat mich ein paarmal eingeladen, aber bisher war die Lage irgendwie nicht so günstig.«
»Ja, ich habe das von deinen Eltern gehört. Sehr tragisch. Ich möchte wirklich mein herzliches Beileid aussprechen.« Er lächelte bedauernd, aber die Teilnahme erreichte die Augen nicht.
Nelly kam wieder ins Zimmer. Jan beugte sich herunter, um seiner Mutter die Wange zu küssen, und Nelly ließ ihn mit gleichgültiger Miene gewähren.
»Wie schön für dich, Mutter, daß Erica endlich kommen konnte. Du hast dich doch schon so lange darauf gefreut.«
»Ja, das ist wirklich schön.« Sie setzte sich aufs Sofa. Ihr Gesicht verzog sich vor Schmerz, und sie griff sich an den rechten Arm.
»Aber Mutter, was ist? Hast du Schmerzen? Soll ich deine Tabletten holen?«
Jan beugte sich vor und legte ihr die Hände auf die Schultern, aber Nelly schüttelte ihn brüsk ab.
»Nein, ich habe nichts. Nur ein paar Altersbeschwerden, nicht der Rede wert. Übrigens, solltest du nicht in der Firma sein?«
»Doch, ich bin nur nach Hause gekommen, um einige Papiere zu holen. Ja, dann werde ich die Damen wohl allein lassen. Überanstrenge dich nur nicht, Mutter, denk an das, was der Doktor gesagt hat …«
Nelly schnaubte nur zur Antwort. Jans Gesicht zeigte Fürsorge und Mitgefühl, die echt zu sein schienen, aber Erica hätte schwören können, daß sie in seinem Mundwinkel ein leichtes Lächeln bemerkte, als er das Zimmer verließ und sich eine Sekunde zu ihnen umwandte.
»Werde bloß nicht alt. Mit jedem Jahr, das vergeht, erscheint einem die Idee mit dem Todesfelsen, von dem sich die Alten früher stürzten, immer besser zu sein. Man kann nur darauf hoffen, so senil zu werden, daß man glaubt, wieder zwanzig zu sein. Es wäre schön, das noch einmal zu erleben.« Nelly lächelte bitter.
Erica murmelte nur etwas und wandte sich dann einer anderen Sache zu. »Es muß doch jedenfalls ein Trost sein, daß man einen Sohn hat, der das Familienunternehmen weiterführt. Soweit ich verstanden habe, wohnen Jan und seine Frau hier bei Ihnen.«
»Trost. Ja, vielleicht.« Nelly blickte den Bruchteil einer Sekunde zu den Fotos über dem Kamin. Sie sagte nichts weiter, und Erica wagte nicht, noch mehr zu fragen. »Genug jetzt von mir und meinen Angelegenheiten. Schreibst du ein neues Buch? Ich muß sagen, daß ich dein letztes über Karin Boye geliebt habe. Du läßt die Autorinnen auch als Personen so lebendig werden. Wie kommt es, daß du nur
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