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Die Eisprinzessin schläft

Die Eisprinzessin schläft

Titel: Die Eisprinzessin schläft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Camilla Läckberg
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dürfen, wäre das Schreckliche nie geschehen. In ihm hätte sie Kraft gefunden, und zusammen mit ihm wäre sie so stark gewesen, wie sie hätte sein müssen.
    Vera fuhr heftig zusammen, als das Telefon klingelte. Sie war tief in alte Erinnerungen versunken, und es gefiel ihr gar nicht, von dem schrillen Geräusch gestört zu werden. Sie mußte die Hände zu Hilfe nehmen, um die eingeschlafenen Beine vom Stuhl zu heben, und leicht humpelnd eilte sie in den Korridor, wo der Apparat stand.
    »Mutter, ich bin es.«
    Anders lallte, und aufgrund der jahrelangen Erfahrung wußte sie genau, in welchem Stadium der Trunkenheit er sich befand. Ungefähr auf halber Strecke bis zum K.o. Sie seufzte.
    »Tag, Anders. Wie geht’s dir?«
    Er ignorierte die Frage. Sie hatten unzählige solcher Gespräche geführt.
    Vera sah sich selbst im Flurspiegel, wie sie mit dem Hörer am Ohr dastand. Der Spiegel war alt und schäbig, hatte dunkle Flecke im Glas, und sie fand, daß sie selbst große Ähnlichkeit mit ihm hatte. Ihre Haare waren grau und stumpf, hier und da ließ sich die ursprüngliche dunkle Nuance noch erkennen. Sie waren straff nach hinten gekämmt zu einer Frisur, die sie selbst mit einer Nagelschere vor dem Badezimmerspiegel schnitt. Es hatte keinen Sinn, Geld für den Friseur hinauszuwerfen. Das Gesicht war zerknittert, der jahrelange Kummer hatte sich in Runzeln und Falten niedergeschlagen. Ihre Kleidung war wie sie selber. Farblos, aber praktisch, meist in Grau oder Grün. Die harte Arbeit und ihr mangelndes Interesse am Essen waren der Grund, weshalb sie nicht jene Rundlichkeit angenommen hatte, die für viele Frauen ihres Alters typisch war. Statt dessen wirkte sie sehnig und kräftig. Wie ein Arbeitspferd.
    Sie registrierte plötzlich, was Anders am anderen Ende der Leitung sagte, und löste schockiert den Blick vom Spiegel.
    »Mutter, hier draußen stehen Streifenwagen. Ein Riesenaufgebot. Die müssen hinter mir her sein. Das sind sie bestimmt. Verdammt, was soll ich machen?«
    Vera hörte, wie seine Stimme sich aufbäumte und die Panik mit jeder Silbe zunahm. Eiseskälte durchfuhr sie. Im Spiegel bemerkte sie, daß sie den Hörer so fest umklammert hielt, daß die Knöchel weiß wurden.
    »Mach gar nichts, Anders. Warte dort. Ich komme.«
    »Okay, aber beeile dich bloß. Es ist nicht wie sonst, wenn die Bullen auftauchen, Mutter, da kommt immer nur ein Wagen. Jetzt stehen drei hier draußen, mit Blaulicht und Sirenen. Verdammt …«
    »Anders, hör mir zu. Atme tief durch und beruhige dich. Ich lege jetzt auf, und dann komme ich, so schnell ich kann, zu dir.«
    Sie hörte, daß es ihr gelungen war, ihn ein wenig zu besänftigen, aber sobald sie den Hörer aufgelegt hatte, warf sie sich den Mantel über und lief, ohne abzuschließen, eilig aus der Tür.
    Sie rannte über den Parkplatz hinter der alten Taxistation und nahm die Abkürzung hinter dem Lagereingang von Evas Supermarkt. Schon kurze Zeit später mußte sie das Tempo drosseln, und so brauchte sie beinahe zehn Minuten, bis sie zu dem Mietshaus gelangte, in dem Anders wohnte.
    Sie kam gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie er in Handschellen von zwei kräftigen Polizisten abgeführt wurde. Ein Schrei baute sich in ihrer Brust auf, aber sie zwang ihn zurück, als sie all die Nachbarn sah, die wie Geier in ihren Fenstern hingen. Unter keinen Umständen würde sie ihnen eine Vorstellung über die hinaus bieten, die sie bereits erhalten hatten. Ihr Stolz war das einzige, was sie noch besaß. Vera haßte das Getratsche, das, wie sie wußte, Anders und sie wie eine klebrige Masse umgab. In den Häusern wurde getuschelt und gemunkelt, und jetzt bekam all das neue Nahrung. Sie wußte, was man sagte: »Die arme Vera, erst ertrinkt der Mann, und dann versackt der Sohn völlig im Alkohol. Und wo sie doch so eine redliche Person ist.« O ja, sie wußte genau, was geredet wurde. Aber sie wußte auch, daß sie alles in ihrer Macht Stehende tun würde, um den Schaden zu begrenzen. Sie durfte jetzt nur nicht zusammenbrechen, sonst fiel alles wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Vera wandte sich an die in ihrer Nähe stehende Polizistin, eine kleine, zarte Frau mit blonden Haaren, die Vera in der korrekten Uniform fehl am Platze fand. Sie hatte sich noch immer nicht an die Ordnung der neuen Zeit gewöhnt, in der Frauen offenbar in jedem beliebigen Beruf tätig waren.
    »Ich bin die Mutter von Anders Nilsson. Was ist passiert? Wohin bringen sie ihn?«
    »Ich kann leider keine

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