Die Eissphinx
Uhr nachmittags, ertönte von den Raaen des Fockmastes ein Ausruf.
»Was giebt es? fragte Jem West.
– Das Packeis zeigt im Südosten einen Durchbruch…
– Und dahinter?…
– Ist nichts zu sehen!«
Der Lieutenant erkletterte die Wanten und stand in wenigen Augenblicken an den Mastseilen der Marsstenge.
Unten warteten Alle mit fieberhafter Ungeduld. Wenn nun der Ausguck sich getäuscht hatte!… Wenn eine optische Illusion… In keinem Falle würde doch Jem West einem Irrthum verfallen.
Nach einer Beobachtung von zehn Minuten – zehn endlosen Minuten – erschallte seine klare Stimme bis zum Verdeck herunter.
»Offenes Wasser!« rief er.
Einstimmige Hurrahs ertönten als Antwort.
Die Goëlette drehte so scharf am Winde wie möglich nach Südosten bei.
Zwei Stunden später war das Ende des Packeises umsegelt, und vor uns lag eine glitzernde, völlig eisfreie Meeresfläche ausgebreitet.
Vierzehntes Capitel.
Eine Stimme im Traume.
Völlig eisfrei?… Nein, das wäre doch zu viel behauptet. In der Ferne, im Osten erglänzten einige Eisberge, Schollen und Blockhaufen. Immerhin hatte das Thauwetter an dieser Seite schon sehr stark gewirkt und das Meer war soweit frei, daß ein Schiff bequem darauf manövrieren konnte.
Ohne Zweifel waren die Fahrzeuge Weddell’s auch durch diesen breiten Meeresarm eingefahren, als sie damals bis zum vierundsiebzigsten Breitengrade vordrangen, den die »Jane« noch um sechshundert Seemeilen überschreiten sollte.
»Bis hierher hat Gott uns geholfen, sagte der Kapitän Len Guy zu mir, möchte er uns auch bis zum Ziele gnädig sein!
– Binnen acht Tagen, hab’ ich geantwortet, befindet sich unsere Goëlette vielleicht in Sicht der Insel Tsalal.
– Ja… vorausgesetzt, daß der Ostwind andauert, Herr Jeorling. Vergessen Sie aber nicht, daß die »Halbrane«, als sie längs des Packeises bis zu dessen östlichem Ende hin segelte, sich von ihrer Route entfernt hat und erst nach dieser zurückzuführen ist.
– Der Wind ist uns ja günstig, Herr Kapitän.
– Wir werden ihn auch benützen, denn ich denke erst die Insel Bennet anzulaufen. Dort ist mein Bruder William anfänglich ans Land gegangen, und haben wir dieses Eiland gefunden, so wissen wir, daß wir uns auf dem rechten Wege befinden…
– Und womöglich entdecken wir da auch noch weitere Merkmale, Herr Kapitän.
– Das kann ja sein, Herr Jeorling. Heute noch, wenn ich mein Besteck gemacht und unsere Lage genau berechnet habe, steuern wir dem Bennet-Eiland zu.«
Es liegt auf der Hand, daß wir dem sichersten, uns hier verfügbaren Führer folgen mußten. Ich meine hiermit das Buch Edgar Poë’s – thatsächlich den wahrheitsgetreuen Bericht Arthur Gordon Pym’s.
Nachdem ich diesen nochmals mit gebührender Sorgfalt durchgelesen hatte, kam ich zu folgenden Schlußfolgerungen:
Daß der Kern wahr sei, daß die »Jane« die Insel Tsalal entdeckt und angelaufen habe, daran war ebensowenig zu zweifeln, wie an der Existenz der sechs Ueberlebenden vom Schiffbruche, wenigstens zur Zeit, wo Patterson auf der Eisscholle weggetrieben wurde. Das war das Thatsächliche, das Gewisse, das Unzweifelhafte. Ein anderer Theil mußte aber wohl der Phantasie des Erzählers in Rechnung gesetzt werden… einer wunderbaren, überschwänglichen, zügellosen Phantasie, wenn man nur das Bild betrachtet, das er von sich selbst entwirft.
Der Hochbootsmann ließ eine lange Leine ins Meer laufen. (S. 195.)
Zunächst konnte man ja kaum die höchst seltsamen Beobachtungen für verläßlich ansehen, die er in der Tiefe des Antarktischen Oceans gemacht zu haben behauptete, wie das Vorhandensein »neuer Menschen« und bisher völlig unbekannter Thiere. Sollten der Boden dieser Insel wirklich von ganz besonderer Art und ihre Gewässer von so eigenthümlicher Zusammensetzung sein? Gab es jene hieroglyphischen Abgründe, deren Anordnung Arthur Pym in einer Planzeichnung mitgetheilt hat? Erschien es glaublich, daß die weiße Farbe auf die Inselbewohner so erschütternd wirkte? – Doch warum nicht, da das Weiß, das Kleid des Winters, die Farbe des Schnees, ihnen die Annäherung der schlechten Jahreszeit verkündete, die sie in einen Eiskerker einschloß? Jenseits Tsalals freilich, jene ganz unbegreiflichen Erscheinungen, die grauen Dünste des Horizonts, die Verdunkelung des Himmelsraumes, die leuchtende Durchsichtigkeit der pelagischen Tiefen, endlich der Luftkatarakt, der weiße Riese, der sich auf der Schwelle des Poles
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