Die Eistoten: Thriller (German Edition)
raushalten. Überlass das der Polizei!«
»Ich werde den Beweis erbringen.«
»Einen Scheiß wirst du tun«, erwiderte ihr Großvater. »Du gehst nach Hause.«
Sie nickte und dachte an Tom. Irgendjemand musste denMörder stoppen. Er hatte ihre Mutter getötet, weil sie ihm zu nahe gekommen war. Wenn sie nichts tat und nur abwartete, dann würde er sie umbringen, genauso wie all die anderen. Wer wusste, wie viel der Unfälle auf sein Konto gingen.
Ihr Großvater war auf dem Stuhl zusammengesunken. Er war eingenickt. Am liebsten würde sie ihm jetzt einen Tee machen und ihm dann eine Decke auf die Beine legen. Stattdessen öffnete sich die Tür. Ein uniformierter Beamter betrat das Zimmer.
Wenn Lehmko ihre Mutter getötet hatte, ihre Mutter und die Mädchen, den Journalisten … Wie konnte sie ihn aufhalten? Sie kam sich plötzlich klein vor und verletzlich. Und als der Kommissar sie durch das Schneegestöber nach Hause fuhr, begriff sie, dass der Tod nicht nur ein Wort war. Er war einfach das Ende von dem, was sie jetzt war, und zwar für immer.
35.
Vorsichtshalber verriegelte Alice jeden Fensterladen von innen, auch die im Obergeschoss. Doch wer es darauf anlegte, den Riegel von außen hochzuschieben, der brauchte nur ein Taschenmesser. Die Fenster waren auch alles andere als einbruchssicher. Ein Satz von Sunzi, dem chinesischen Militärstrategen und Philosophen, der vor 2500 Jahren gelebt hatte, fiel ihr ein . Was nützt die mächtigste Festung und die dicksten Mauern, wenn die Tore offen stehen. Doch würde Lehmko es wagen, in ihr Haus einzubrechen? Dr. Adibert Lehmko, der gebildetste Mann in Hintereck? Sie konnte es immer noch nicht fassen, dass er die Mädchen getötet und dass er jeden beseitigt hatte, der ihm zu nahe kam. Lehmko, der Mörder ihrer Mutter. Hatte er seine Mordpläne schon gefasst, als ihre Mutter am Jahresende zum Elternsprechtagin die Schule gekommen war? Wer dachte schon daran, wenn man vor dem Klassenlehrer seines Kindes stand, dass man in dessen Augen schon tot war. Die Wahrheit zwischen Leben und Tod resümierte sich für Alice auf die einfache Wirklichkeit, dass es Lebende gab, die auf der Erde herumliefen, Pflanzen und Tiere aßen, in die Schüssel kackten und den lieben langen Tag redeten. Dazwischen bauten sie Häuser, Straßen und brachten andere Menschen um. Die anderen, das waren die Toten. Sie starben an Krankheiten, weil sie zu alt waren oder weil jemand dafür sorgte, dass sie unter die Erde kamen. Von ihnen blieb nicht mehr als ein paar Knochen, die in drei Meter Tiefe in der kalten Erde verrotteten.
Alice versperrte die Kellertür und schob den Wäscheschrank vor die Tür. Mehr Zugänge gab es nicht. Vielleicht wäre es noch ganz gut, wenn sie ein Messer aus der Küche in ihr Zimmer nähme? Doch was nützte ihr das Messer, wenn sie nicht damit umgehen konnte? Die Idee, sich plötzlich bewaffnen zu müssen, nur weil sie für Gerechtigkeit sorgte, gefiel ihr nicht. Noch weniger gefiel ihr, dass Lehmko, ein Mann, der Goethe und Platon las, solch ekelhafte Verbrechen begehen konnte. Doch was hatte sie schon gegen ihn in der Hand? Kein Staatsanwalt würde auch nur einen Augenblick zuhören, wenn Alice ihnen erklärte, dass die Position der erstarrten Leichen exakt der Position der Frauen entsprach, die auf den Fotos in Lehmkos Haus hingen. Und dass ein betrunkener Pfarrer das Vaterunser auf Latein sprach und seine eigene Kirche vollschmierte, das waren alles keine Beweise. Bez hatte nicht einmal einen Hinweis gegeben, warum es gerade eine 11 war, blutrot und mit Schweineblut geschrieben. Was ging nur im Kopf des Pfarrers vor? Wie lange wusste er schon von Lehmko?
Ganz anders verhielt es sich mit den Aufzeichnungen aus der Beichte. Der kleine Lauschangriff. Das waren Geheimdienstmethoden.Es gab eben Situationen, in denen man Ausnahmen machen musste. Doch selbst wenn die geheime Aufzeichnung im Beichtstuhl als Beweis gegolten hätte, sie besaßen sie nicht mehr. Und Tom hatten sie fast das Leben gekostet. Toms Handy-Lauschangriff war vielleicht doch nicht so unauffällig gewesen. Lehmko hatte nicht gezögert. Er hatte Alice getroffen und sie zu sich eingeladen. Sie hatte ihm nichts angesehen, keinen Stress, er war wie immer ein zuvorkommender, an Höflichkeit glänzender Lehrer gewesen. Als er aus dem Haus ging und noch etwas zu erledigen hatte, da ging er zur Beichte. Sie erinnerte sich an den Anruf, den Stephan erhalten hatte, während er ihr das Haus zeigte, und an die
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