Die Eistoten: Thriller (German Edition)
ihren Hamster, der an einem heißen Sommertag tot in seinem Käfig lag, und ihre Großmutter, die aber nicht tot ausgesehen hatte. Alice erinnerte sich an ihr weißes Gesicht, die zusammengepressten Lippen und die Augenlider, hinter denen keine Augäpfel mehr zu sein schienen. Sie hatte gewirkt, als schliefe sie, nur dass sie vergessen hatte aufzuwachen, als Alice sie in die Wange gekniffen hatte. Mit dem Tod kann man nicht reden, dachte sie damals. Der Tod schwieg wie ein Flussstein. Nur Angst hatte sie keine. Ihr Vater hatte sie zu Hause lassen wollen. »Dafür bist du noch zu klein«, hatte er gemeint. Zu klein für was? Sie hatte leider nicht genug Zeit gehabt, um noch mehr als Kneifen auszuprobieren. Mit Kneifen konnte man Schlafende aufwecken. Doch Alice hatte das Gefühl, dass das tote Mädchen vor ihnen im Schnee nie mehr aufwachen würde. Andererseits, wie konnte sie da so sicher sein? War es nicht so wie mit der Wahrheit, dass alle Schwäne weiß waren? Waren sie nicht alle weiß, bis jemand einen schwarzen gesehen hatte? Bis es ein Heilmittel gegen den Tod gab, so lange musste sie davon ausgehen, dass keiner mehr zurückkam.So dass sich nur eine Frage stellte: Wer hatte das Mädchen ermordet?
Sie hatte das Wort »Mord« noch nicht ausgesprochen, als ihr ein Schauer über den Rücken lief. Vielleicht hätte sie in diesem Augenblick einfach auf Tom hören sollen. Auch wenn Tom von seinen eigenen Furzen zusammenzuckte.
»Wir müssen die Polizei rufen! Alice, hörst du mir überhaupt zu?«
»Spinn jetzt nicht rum.«
»Das ist kein Spiel, Alice, das ist todernst. Wenn wir nicht verschwinden, dann sehen wir bald so aus wie sie … genauso grau und tot.«
»Was wird die Polizei schon tun?«
Sie kann die Toten nicht auferwecken.
»Dort sind Ermittler und der ganze Scheiß mit Spurensicherung und so.«
»So wie sie bei meiner Mutter gesucht haben.«
»Deine Mutter ist bei einem Unfall gestorben.«
»Du weißt, dass das nicht stimmt«, schrie sie ihn an. Das wollte man ihr einreden. Gehirnwäsche, bis sie daran glaubte. Dann noch zum Psychotherapeuten. Auch der Psychotherapeut konnte ihr nicht erklären, wie die Bilder, die ihre Mutter am Tag ihres Todes gemacht hatte, in ihren Briefkasten gekommen waren.
»Wir brauchen keine Polizei. Wir ermitteln selbst.«
»Ich ruf die Polizei.«
»Tom!« Sie nahm das Handy aus seiner Hand und schaltete es aus. Dann blickte sie ihn an. »Wir geben uns einen Tag Vorsprung, dann informieren wir die Polizei. Wir werden selbst den Mörder finden.«
»Du bist verrückt, Alice, völlig durchgeknallt.«
»Willst du mich im Stich lassen?«
»Habe ich eine Wahl?«
»Nein. Sonst rede ich mit dir kein Wort mehr.«
Tom machte einen Schritt auf die Leiche zu. Alice hielt ihn zurück.
»Vorsicht, die Spuren.«
»Welche Spuren?«
Alice hatte sich auf einen Meter der Leiche genähert. Aus der Nähe wirkte die Haut der Toten gläsern. Adern überzogen wie ein dunkles Geflecht Hals und Gesicht.
»Eines steht fest«, sagte Alice, »sie ist nicht in dieser Haltung gestorben.«
»Wie kommst du darauf?«
»Weil man nicht im Stehen stirbt und dann stehenbleibt. Noch dazu mit verschränkten Armen. Auch der Kopf … Sie hat ihn zu uns gedreht, so als würde sie über ihre Schulter zu uns schauen.«
»Sie kann erfroren sein. Jedes Jahr sterben in den Bergen Leute, die man dann im Frühling hart gefroren findet.«
»Aber keiner stirbt im Stehen und bleibt dann noch so lange lebendig, bis der rigor mortis einsetzt.«
»Der was?«
»Die Totenstarre.«
»Du glaubst, jemand hat sie umgebracht und dann so hingestellt? Wie eine Puppe?«
»Von alleine ist sie jedenfalls nicht in dieser Position gestorben.«
Alice ging in einem Abstand von einem Meter um die Leiche herum, als ihr etwas auffiel. Kaum zu sehen. Der Schatten einer knorrigen Kiefer verdeckte es. Tom redete weiter, aus Angst. Alices Blicke waren wie gebannt. Der Schuhabdruck war die einzige sichtbare Spur im Schnee. Auf der Leiche lag nicht viel Neuschnee. Sie befand sich hier also noch nicht lange. Eigentlichhätte es mehr Spuren geben müssen. Auch wenn man davon ausging, dass die Tote selbst hergekommen war, hätte man zumindest ihre Spuren finden müssen. Es gab aber keine Abdrücke. Nur diesen einen Abdruck. Sie beugte sich vor und zog einen Ast beiseite. Jemand hatte sich viel Mühe gegeben, jede Spur zu verwischen. Nur diesen einen Abdruck hatte er übersehen. Der Abdruck war gut erhalten. Kein Schnee. Die Ränder
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