Die Eistoten: Thriller (German Edition)
wovon ich rede.«
»Alice«, unterbrach ihr Vater, »ich will nicht, dass du dich wieder in deine Theorien hineinsteigerst.«
»War es nicht so, dass auch an dem Abend, bevor Mama ums Leben kam, jemand eine 11 auf die Kirchenpforte geschmiert hatte?«
»Zwei zufällige Ereignisse. Genauso gut hätte ein Skifahrer abstürzen können. Das hätte genauso wenig mit dem Tod deiner Mutter zu tun gehabt. Wir haben einen Schmierfinken, der an Weihnachten die Kirchenpforte vollschmiert. Das ist alles. Und dieses Jahr gab es keine Toten.«
Ich wünschte, es wäre so …
»Und wenn morgen jemand an seinem Gänsebraten erstickt ist, dann hat das nichts mit den Schmierereien zu tun.«
»Der Pfarrer weiß, was die 11 bedeutet«, sagte Alice, »deshalb erstattet er keine Anzeige, sondern putzt selbst die Pforte.«
»Wenn es nur der Pfarrer weiß, dann geht es auch nur ihn etwas an.« Ihr Vater schob die Teller zusammen, so als könnte er damit jede Erinnerung in die Spülmaschine verfrachten.
»Genau«, pflichtete Amalia bei. »Warum sich da kratzen, wo es andere juckt? Da schaust du, ich habe auch coole Sprüche drauf.«
»Und wenn morgen oder übermorgen eine Tote auftaucht? Wie jedes Jahr?«
»Wir haben jedes Jahr Unfälle, Alice. Besonders wenn die Winterhart und kalt sind. Dann kommt noch Alkohol ins Spiel, und schon liegt jemand im Straßengraben oder übersieht ein Lawinenwarnschild.«
»Bei der Polizei ist also noch keine Vermisstenmeldung eingegangen?«
»Nicht, solange ich Dienst hatte. Alles ruhig, alles gut. Hoffen wir, dass es so bleibt.«
Die Toten melden sich nicht von allein.
»Und was ist mit den Eistoten?«
»Welchen Eistoten?«, fragte ihr Vater.
»Es gab da einen Artikel eines Journalisten. Er hat vor Jahren einen Artikel geschrieben über ein merkwürdiges Phänomen.«
»Welches Phänomen?«
»Jedes Jahr zwischen Weihnachten und Neujahr erfrieren in unserer Gegend um Hintereck junge Frauen. Alle ohne ersichtliche Gewalteinwirkung. Alle aber in einer Position, in die sie sich nach dem Tod nicht selbst gebracht haben können.«
»Wenn an der Sache etwas dran wäre«, antwortete ihr Vater, »dann hätte die Kripo schon ermittelt. Verrückte gibt es überall. Vor allem unter den Journalisten. Die leben von ihren Storys.«
Als Nachspeise tischte Großvater flambiertes Eis auf. Amalia erzählte von ihren Plänen, in der Karibik eines Tages eine Würstlbar aufzumachen. Vater und Großvater nickten nur schweigend. Die Würstlbar sei der größte Exportschlager Deutschlands, ereiferte sich Amalia, und Alice stellte sich vor, wie ihre Schwester im Tanga mit aufgedonnerten Haaren über einem Fettgrill stand und mit einer Würstlzange Bockwürste umdrehte.
Die Kerzen in der Mitte des Tisches waren bis zur Hälfte runtergebrannt. Ein Geruch von kaltem Fett, Kaffee und Wachs hielt sich unbeweglich über dem Tisch wie eine toxische Wolke.
»Es schneit fest«, sagte ihr Großvater.
»Wenn das so weitergeht, dann sind morgen alle Straßen dicht.«
Wie in dem Jahr, als ihre Mutter starb.
14.
21.30 Uhr
Trotz des dichten Schneegestöbers bestand Großvater darauf, dass sie alle zur Christmette gingen. Dieser eine Tag war ihm wichtig. Sein Unglauben hinderte ihn jedoch nicht daran. Großvater glaubte an keinen Gott, und er hielt diejenigen, die es taten, für einfältige Trottel. Weihnachten saß er jedes Jahr in der ungeheizten Kirche, in der sich vom Atem der Besucher Wolken im eisigen Kirchenschiff bildeten.
Die Nacht sah aus, als hätte sie sich mit Watte gefüllt. Die Straßenlaternen glichen Lichtern in schmutzigem Wasser. Der Weg ins Dorf zeichnete sich kaum ab. Alice musste an das tote Mädchen denken. Der Schnee fiel auf ihre Leiche wie auf einen Felsen. Und irgendwo in diesem Schneegestöber stapfte vielleicht der Mörder ebenso wie sie zum Gottesdienst oder saß vor seinem Ofen.
Auf dem festgetretenen Schnee im Dorf rutschte Alice zweimal, fing sich ab und stapfte weiter. Amalia hatte mehr Angst um ihre Frisur, als sich auf dem eisigen Weg ein Bein zu brechen.
Als sie an der Friedhofsmauer vorbeikamen, bemerkte Alice die frischen Spuren einer Katze. Ungewöhnlich, dass eine Katze bei diesem Wetter vor die Tür ging. Ihre Pfoten waren tief eingesunken. Die Spur folgte der Friedhofsmauer und bog dann in den schmalen Weg zwischen Kirchhof und Kirche. Dort brachsie ab, als wäre die Katze aus dem Stand direkt ins Nichts gesprungen. Doch wohin? Links war die steile Mauer der Kirche, auf der sie
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