Die Eistoten: Thriller (German Edition)
grinste über beide Ohren. Wen sie auch immer im düsteren Seitenschiff getroffen hatte, es war nicht der Pfarrer. Von Amalias Stirn lief ein langer roter Faden. Sie hatte ihre Finger in das Weihwasserbecken gesteckt und sich bekreuzigt. Dasselbe Becken, in dem Alice ihre Handschuhe gewaschen hatte. Wenn sie nicht die Einzige war? Alice stand auf.
»Setz dich endlich hin!«, zischte ihr Vater.
Versunken in ihren Mänteln, schliefen in der dritten Reihe bereits die meisten. Darunter auch Anton Haas. Neben ihm seine Schwester, die Frau des Oberschrat. Ihre Augen standen weit offen. Sie blickte über die Köpfe hinweg, als wäre sie körperlich gar nicht anwesend. Über Weihnachten hatte Haas sie aus dem Heim für Alzheimer und Parkinsonkranke geholt. Im Mittelgang drängten sich die Zuspätgekommenen. Schlafende wurden geweckt, man grüßte sich und stieg über Knie hinweg. Vier von ihnen trugen das blutige Kreuzzeichen. Sie waren im Seitenschiff gewesen und hatten sich bekreuzigt.
Alice ließ ihren Blick über die Köpfe schweifen. Bis ein Augenpaar sie fixierte. Eine massige Gestalt wie aus einem Holztrunk geschlagen. Die Gestalt des Schrott-Gruber. Er starrte sie an. Ein roter Faden lief quer über seine Nasenwurzel in sein von Falten zerschnittenes Gesicht. Ein Ruck ging durch die Bänke. Der Pfarrer trat vor den Altar, verbeugte sich. Die Orgel setzte ein.
Zwischen dem Altar und der ersten Reihe bereitete Lehmko das Krippenspiel vor. Dr. Lehmko spielte einen der Heiligen Drei Könige. Annegret spielte Josef. Die Klassenstreberin. Sie schaffte es das ganze Jahr zu lächeln und erinnerte sich an alles, was K. O. irgendwann einmal von sich gegeben hatte. Der angeklebte Bart hing ihr schief im Gesicht. Maria war ein schwindsüchtiges Mädchen, das Melanie hieß. Ob sie schwindsüchtig war, wusste Alice nicht. Sie sah jedenfalls immer so aus, als würde sie jeden Augenblick in Ohnmacht fallen. Mit ihr kam Alice noch am besten aus. Das lag daran, dass Melanie zu den wenigen gehörte, die sich freiwillig in der Schulbibliothek aufhielten und seltsame Bücher über Glasbläserei oder Reiseführer lasen. Als Maria trug sie einen blauen Umhang. Bleich und abwesend blickte sie in die Krippe, in der eine wächsern aussehende Puppe lag. Melanie war geistig nicht anwesend. So als hätte sie sich für die Zeit des Krippenspiels einfach ausgeklinkt. Sie war auch als Maria ein wandelnder Luftzug. Schlimmer war aber noch der rote Faden in ihrem Gesicht. Fromme Maria, dachte Alice, hast du doch deine Finger in den Weihwassereimer gesteckt. Jetzt hast du Katzenblut auf der Stirn. Lehmko war ebenfalls blutgezeichnet.
Tom kam mit seinem Vater, als der Gottesdienst schon angefangen hatte. Er stand hinter einer Säule. Sein Vater suchte verzweifelt im Gotteslob die richtige Seite. Alice drehte sich umund zwinkerte Tom zu. Wie sollte sie ihm verständlich machen, was sie im Beichtstuhl gehört hatte? Etwas war im Gange, etwas Schreckliches. Und wenn der Mörder des Mädchens ein gläubiger Christ war, dann hatte er sich bekreuzigt, nachdem er den Beichtstuhl verlassen hatte. Dort im Seitenschiff gab es nur ein Weihwasserbecken. Das blutige …
Sie wagte nicht, den Schrott-Gruber noch einmal direkt anzusehen. Das wäre zu auffällig. Er war einer der Ersten mit dem Blutmal auf der Stirn. Doch es konnten auch mehr sein. Alice wurde plötzlich von der Vorstellung geschüttelt, dass jedes Licht in der Kirche ausfallen würde. Tiefste Schwärze und in ihren Gedanken saßen plötzlich nur noch die auf den Bänken, die ein Blutmal trugen. In der Dunkelheit konnte sie ihre langen Zähne blitzen sehen … Alice, wach auf, das sind Kindereien. Angst ist kein Sachverhalt. Wittgenstein hätte Angst nicht zugelassen. Wenn Weihnachten doch endlich zu Ende wäre! Doch Alice ahnte, dass Weihnachten gerade erst begann und mit ihm die Finsternis hereinbrach.
Die Turmuhr hatte noch nicht Mitternacht geschlagen, als Alice, gefolgt von ihrer Schwester und ihrem Vater, in die eisige Nacht trat. Ihr Großvater unterhielt sich mit dem Gruber. Neben dem Schrott-Gruber sah er aus wie ein Jüngling. Nicht alle Menschen altern auf dieselbe Weise. Einige altern gar nicht, nur äußerlich. Falten, weniger Kraft und Muskeln, doch sie sind jung geblieben. Andere sind schon mit vierzig oder fünfzig alt und bleiben es bis zu ihrem Tod. Schrott-Gruber sah auf den alten Fotos, die ihr Großvater beim Dorffest gemacht hatte, schon wie ein alter Mann aus. Der alte
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