Die Eistoten: Thriller (German Edition)
Unfall im Winter.«
Alice sah das tote Mädchen im Wald vor ihrem geistigen Auge. Die Position war absurd. Die Tote stand aufrecht. Jemand musste sie getötet und dann in eine bestimmte Position gebracht haben. Er hatte die gefrorene Leiche aufgestellt wie eine Schaufensterpuppe.
»Jemand hat sie nach ihrem Tod dort hingesetzt«, sagte Alice nach einer Weile.
»Doch dafür gab es keine Beweise, keine Spuren, nichts.«
»Und was haben die Rechtsmediziner festgestellt?«
»Tod durch Erfrieren. Die merkwürdige Stellung der Leiche fiel Zugl erst auf den Bildern auf. Außerdem hatte er einen schweren Stand. Als Lehrer war er bei den meisten Dörflern ein Studierter, der künstlich Hochdeutsch redet. Wenn die Hintereckler etwas nicht leiden können, dann, wenn einer ihr Allgäuerisch umgeht. Der hält sich dann für etwas Besseres. Dass man dem Zugl noch ein Verfahren angehängt hat, weil er nicht auf sein Kind aufpassen konnte, war einigen ganz recht.«
»Ein Motiv«, kombinierte Alice schnell.
»Das glaube ich weniger. Der Hintereckler ist vielleicht schadenfroh, aber so heimtückisch, dass er ein kleines Mädchen umbringt, ist er nicht.«
»Jemand hat es getan«, sagte Alice.
»Ich glaubte damals auch, dass es ein Unfall war.«
»Und jetzt? Was glaubst du jetzt?«
»Ich weiß nicht, was ich glauben soll. Mir fehlen Beweise, Tatsachen. Ich kann nur spekulieren.«
»Was haben Wegener und Gruber damit zu tun?«
»Ach, Alice, es war ein Fehler, dir davon zu erzählen. Das bringt dich auf unsinnige Gedanken.«
»Du hörst dich schon wie Papa an. Sag jetzt bloß nicht, dass ich noch zu jung bin und noch nichts vom Leben verstehe.«
»Das habe ich nie.«
»Dann kannst du mir auch sagen, warum die beiden so aufgebracht waren.«
»Sie haben Angst, dass Zugl doch nicht durchgedreht ist, dass etwas an seinem Verdacht dran war. Als gestern die Schmierereien an der Kirche aufgetaucht sind, hat mich Wegener angerufen.«
»Was hat Wegener damit zu tun?«
»Es gibt eigentlich keinen direkten Zusammenhang zwischen dem Tod des Mädchens und Wegener. Aber ich versuch es dir in ein paar Worten zu erklären. Unter der Bedingung, dass das, was ich dir sage, unter uns bleibt.«
»Mach schon, Opa.«
Ihr Großvater lauschte für einen Moment. Im Haus war es still. Amalia hatte ihre Kopfhörer auf, wie jeden Abend. Robbie Williams bis zum Anschlag. Ihr Vater las auf der Couch oder war vor dem Fernseher eingeschlafen. Die Dachsparren knarrten, als die Windböen an die Holzwand des Hauses drückten. Schuuubehhhhhh … Alice kannte das Ächzen des alten Holzhauses.
»Nach der Beerdigung Inas hat Zugl Urlaub genommen. Er ging nicht mehr aus dem Haus und verbarrikadierte sich. Seine Frau besuchte er kein einziges Mal. Nur ab und zu sah man, wie er in dem inzwischen verwilderten Garten auf und ab lief. Von der Schulleitung erfuhren wir, dass Zugl unbezahlten Urlaubgenommen hatte. Kein Mensch weiß bis heute, was Zugl in seinem Haus getrieben hat. Das ging ein halbes Jahr so. Bis im Dorf ein Mann auftauchte, der die Leute aushorchte. Er stellte Fragen, fotografierte Häuser, Gärten, schrieb Autonummern auf, machte sich Notizen, während die Leute am Stammtisch redeten. Dein Vater hat das Kennzeichen des Mannes überprüfen lassen. Der Mann gab sich als Privatdetektiv aus. Sein Gewerbe war sogar eingetragen. Hauptberuflich arbeitete er als Journalist beim Allgäuer Blatt. Zugl hatte ihn engagiert. Er verdächtigte das ganze Dorf. Sogar unser Haus hat er fotografiert. Ich hätte ihn vom Grundstück gejagt, wenn deine Mutter nicht gewesen wäre.«
»Hat Mama Zugl geglaubt?«
»Sie hat sich mit dem Privatdetektiv unterhalten. Ich weiß nicht mehr, wie er hieß. Aber sie begann sich auch für den Fall zu interessieren und traf sich ein- oder zweimal mit Zugl. Von deiner Mutter weiß ich auch, dass Zugl sich hoffnungslos verschuldet hatte. Er war besessen von der Idee, den Mord an seiner Ina aufzuklären. Zugls Finanzen wurden immer knapper. In dieser Zeit tauchte Zugl wieder am Stammtisch auf. Er war pleite. Gezwungenermaßen musste er andere in seine Theorie einweihen. Hinter vorgehaltener Hand hielten wir Zugl für total übergeschnappt. Als er uns um Geld bat, legten wir ab und zu einige hundert Euro zusammen. Doch er brauchte immer mehr für seine Expertisen, Überwachungsgeräte und den Detektiv. Niemand wollte ihm Geld leihen. Da kam Gruber auf die Idee, Zugls Haus zu kaufen. Plötzlich bestärkten sie ihn in seiner Suche.
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