Die Eistoten: Thriller (German Edition)
glich mehr einer Schaufensterpuppe als einer Leiche. Und für einen Moment dachte Alice, dass alles nur ein Scherz war. Die Tote starrte Alice an, als wartete sie auf ein Zeichen. Ein Wort, das Eis schmelzen und gefrorenes Blut wieder fließen ließ.
»Es ist wichtig, dass wir das sehen …«
»Es ist wichtig, dass du hier verschwindest«, meinte der Polizist.
»Sie wissen doch gar nicht, womit Sie es hier zu tun haben. Mein Vater ist Polizist …«
Weder Wittgenstein noch sie konnten diesen engstirnigen Polizisten dazu bringen, aus dem Weg zu gehen. Mein Vater ist Polizist … hättest du bloß den Mund gehalten.
»Dann kannst du mir sicher verraten, was du hier machst?«
»Ich untersuche den Todesfall eines Mädchens. Alter 11 bis 12 Jahre, Todesursache ist wahrscheinlich Tod durch Erfrieren, Todeszeitpunkt vor mehr als 48 Stunden. Sie sollten mit den Zeugen beginnen.«
»Fräulein Sherlock Holmes, dies ist kein Spielplatz und kein Film.«
»Sie haben mich noch nicht einmal gefragt, ob ich etwas über den Tod des Mädchens weiß?«
»Mein Gott, bist du hartnäckig! Zisch ab!«
Alice kniff ihre Augen zusammen und warf dem Zivilbeamten ihren Blick zu, den sie normalerweise Amalia vorbehalten hatte. Ein Meter siebzig aufgetürmte Blödheit. Größer war der Polizist nicht. Die Logik des Zufalls wollte es, dass in diesem Augenblick ihr Vater um die Ecke bog.
»Was machst du hier?«
»Wir waren zufällig hier und …«
»Sie sind zufällig über die Friedhofsmauer geklettert und an der Wand entlanggeschlichen«, meinte der Polizist.
»Ich kann das erklären, Papa.«
»Sag mir jetzt nicht, dass du wieder eine deiner Verschwörungstheorien von unbekannten Serienkillern hast. Deine Phantasie geht nicht nur mit dir durch, sie hat beängstigende Ausmaße erreicht.«
»Und warum kannst du mir nicht zuhören?«
»Weil ich jetzt keine Zeit habe. Reden wir morgen darüber.«
»Wir sind nicht verrückt.«
»Wer ist wir?«, fragte der Mann in Zivil.
»Ich und … na Tom eben.«
Alice hatte ihre Position leicht verändern können, so dass sie die Tote noch einmal sehen konnte. Es war dieselbe Leiche. Das Mädchen aus dem Wald. Dennoch war etwas anders. Es fiel ihr zunächst nicht auf, aber sie erinnerte sich jetzt. Die Tote im Wald hatte keine Mütze und Handschuhe getragen. Die Leiche vor ihr glich jedoch einer Skitouristin, die sich am Lift anstellte. Mütze und Handschuhe. Die Fellfäustlinge waren nicht gefroren. Auch die Strickmütze passte nicht zu dem Rest der hartgefrorenen Kleidung. So als hätte der Täter sie angezogen. Wie eine Puppe, mit der man zum Spielen nach draußen ging.
Wittgenstein stand in der ersten Reihe der Zuschauer. Er blickte zur Kirchenpforte. Über Wittgensteins Schulter war auch Lehmko zu sehen, in der Hand eine Plastiktüte. Wittgenstein warf einen Blick in Lehmkos Tüte und verschwand.
»Das ist ein schlimmes Unglück, Alice. Bitte, geh jetzt nach Hause. Das ist wirklich nichts für dich. Tust du das für mich?«
»Komm mir bloß nicht so«, sagte Alice angriffslustig, »und behandle mich nicht wie ein elfjähriges Kind.«
»Du bist elf … und jetzt nach Hause. Keine Widerrede.«
»Ich bin elfeinhalb, biologisch gesehen. Geistig dürfte ich …« Sie überlegte und rechnete, was sie über die verschiedenen geistigen Altersstufen von ihrem Großvater gelernt hatte. Es gabMenschen, die waren mit zwölf Jahren schon so klug, wie andere es mit achtzig nicht wurden. Es gab Achtzigjährige, die hatten ihren geistigen Zenit schon mit fünfzehn überschritten. Das war die Kreuzworträtselelite, wie ihr Großvater sie nannte.
»… sechsundfünfzig sein.«
»Alice«, ihr Vater packte sie jetzt grob am Arm, »verschon mich mit deinem albernen Gerede, sonst lernst du mich wirklich mal kennen.«
Das war der Zeitpunkt, um einen Rückzieher zu machen. Wittgenstein war schon verschwunden. Tom blieb an der Friedhofsmauer stehen. Gut, er hat alles mit seinem Handy gefilmt.
»Sag jetzt nicht, dass die Tote von selbst zur Kirche gelaufen ist.«
Tom zuckte mit den Schultern. »Ich glaube nicht an Übersinnliches, aber vielleicht gibt es ja eine natürliche Erklärung. Ich meine …«
»Du hast einen Dachschaden, Tom. Das kommt davon, wenn man immer nur in die Röhre glotzt. Dann begreift man nicht, dass Tote nicht laufen und gegrillte Hendl nicht mehr flattern. Jemand hat das Mädchen vor die Kirche gestellt.«
»Und wenn er sie dort gar nicht abgestellt hat, sondern … Ich meine,
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