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Die Eistoten: Thriller (German Edition)

Die Eistoten: Thriller (German Edition)

Titel: Die Eistoten: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Buder
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in die Vorgärten zu schaufeln. Alice wunderte sich über die Ruhe. Amalia hatte sich kurzfristig nach einem geheimnisvollen Anruf entschlossen, nach Kempten mitzufahren. Shopping, sagte sie. Die Geschäfte für Touristen waren offen. Wie immer war sie die Letzte, und wie immer hatte sie mehr Schminke im Gesicht als ein Zirkusclown. Sie trug eine Wollmütze, die farblich genau zu ihrer violetten Jeans passte. Auch die Fingernägel passten dazu. Obwohl Amalia sich unendlich viel Mühe gab, top auszusehen – so nannte sie es … top –, wirkte sie wie eine Vogelscheuche auf einem Krähenacker. Vielleicht weil sie jedes Detail an ihrem Körper herausputzen wollte. Diesmal hatte sie sich aber verrechnet, kicherte Alice in sich hinein.
    Der Psychologe hatte seine Praxis nicht weit vom Residenzplatz. Fünf Minuten Fußweg hatte Alice sich ausgerechnet. Das musste zu machen sein. Sie musste es nur irgendwie anstellen, dass ihr Vater sie für eine halbe Stunde allein ließ. Amalia hatteihre Mütze im Wagen nicht ausgezogen. Vater hätte sie gleich an der Fußgängerzone rauslassen können, doch Amalia wollte schon vorher aussteigen. Sie wollte nicht mit ihrem Vater und noch weniger mit ihrer kleinen verstörten Schwester gesehen werden. Madame wollte einen auf Dame von Welt machen. Alice hätte nur zu gerne den Doldi gesehen, der Amalia den Hof machte. Hätte ein Mann nur annähernd das über Amalia gewusst, was Alice wusste, er würde einen Bogen wie um eine Pestkranke machen. Aber Männer ticken anders ab einem bestimmten Alter, das hatte sie schon festgestellt. Ihre Intelligenz ließ nach, sobald eine Frau in der Nähe war. Es gab Ausnahmen. Sie dachte an Wittgenstein, der lieber Männer bevorzugte. Ob die toten Philosophen noch immer wie Männer tickten, war schwer zu sagen.
    Ihr Vater hielt den Wagen. Amalia stieg aus.
    »Viel Spaß«, rief ihr Alice hinterher. Denn das würde es werden …
    »Nein, du darfst nicht vorne sitzen …«, nahm ihr Vater Alices Frage vorweg. Und auf dem Trottoir geschah es. Amalias wundersame Verwandlung einer Madame in eine …
    Ihr Schrei war stumm, ähnlich einem Brennenden, der nicht begriff, dass er schon lichterloh brannte. Ihr Vater war auf den Verkehr konzentriert. Alice hatte Amalia beobachtet, wie sie die Mütze vom Kopf zog. Darunter sollte eigentlich eine Hunderteuro-Frisur zum Vorschein kommen. Stattdessen sprangen knochige Haarbüschel unter der Mütze hervor. Das Ganze sah aus wie ein Foto von jemandem, der gerade vom Sprungbrett in die Tiefe sprang. Der Moment, da die Haare durch die Schwerelosigkeit vor dem Fall nach oben wegflogen. Nur Amalia fiel nicht, sie sprang auch nicht. Ihre Haare wehten nirgendwohin. Alice würde ihrem Kunstwerk den Namen »erstarrte Explosion« geben. Cyanoacrylat in Amalias Haarlotion. Der Effekt war patentreif.
    »Amalia winkt uns. Hat sie was vergessen?« In diesem Augenblick wurde jedoch eine Lücke frei, und ihr Vater fuhr los.
    »Nein, sie macht nur ihre Frisur zurecht.«
    »Ich dachte, sie rennt uns hinterher.«
    »Nein, nein, Amalia rennt nicht. Mit ihren Schuhen könnte sie gar nicht rennen. Sie trainiert nur für ihre Modellkarriere.«
    Eine Vogelscheuche geht shoppen. Alice lehnte sich zurück.
    Als sie fünfzehn Minuten später im Wartezimmer des Psychologen saß, wurde ihr doch mulmig. Sie war die einzige Patientin. Die einzige Verrückte an diesem Tag.
    Die Frau am Empfang war alles andere als vertrauenerweckend. Sie knallte ihrem Vater ein Formular hin.
    »Ausfüllen, bitte! Den vollständigen Namen beider erziehungsberechtigten Eltern.«
    »Meine Mutter ist tot«, sagte Alice, »deswegen bin ich da.«
    »Dann machen Sie da einen Strich …«
    Einen Strich, wo sonst ihre Mutter ihren Namen schreiben würde. Das ist alles, ein Strich. Ihr Vater füllte das Formular aus. Alice hatte das erste Mal in ihrem Leben das Gefühl, dass etwas Unwiderrufliches geschah, so als besiegelte die Unterschrift ihres Vaters das Ende ihrer Kindheit.
    »Herr Pokel«, sagte die Assistentin schroff, »Sie dürfen dann im Wartezimmer Platz nehmen.«
    »Wäre es nicht besser, wenn ich vorher mit dem Arzt spreche?«
    »Der Herr Doktor möchte heute nur mit ihrer Tochter sprechen. Er wird Sie noch früh genug verständigen.«
    »Allein, wenn es sein muss. Ich finde trotzdem …«
    »Bitte, Herr Pokel, nehmen Sie Platz, oder kommen Sie in ungefähr einer halben Stunde wieder.«
    »In Ordnung«, wehrte ihr Vater den schroffen Ton der Praxishelferin mit einer

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