Die Eistoten: Thriller (German Edition)
ihrer Linken wahr. Dort war jemand hinter einer Tanne verschwunden. Sie ging die Schritte bis zu dem Vorgarten zurück, dann sah sie die Gestalt. Sie schlurfte über den Schnee. Sie hinterließ auch seltsame Spuren. Keine Fußspuren, sondern leichte Abdrücke, die nicht eingesunken waren. Doch die Gestalt war größer als ihr Großvater. Sie ging gebeugt, ihr Gesicht war weiß geschminkt. Ein Spektre, wie Wittgenstein den weißen Clown nannte. Alice konnte es immer noch nicht fassen, warum sie ihn sehen konnte. Das hatte Wittgenstein ihr noch nicht verraten.
Der weiße Clown kam schneller voran als Alice, die immer wieder tief in den Schnee einsank. Vor einem traditionellen Haus mit flachem Dach und weitem Holzbalkon, an dessen Brüstung im Sommer Geranien blühten, hielt der Clown. Er klatschte in die Hände und drehte eine Pirouette auf der Stelle, als stünde er in der Manege eines Zirkus. Paukenschlag. Alice drückte sich hinter eine Tanne. Wenn sie den Clown sehen konnte, dann konnte er sie auch sehen. Sicher war sicher. Schnee rieselte von den Ästen. Ihr Herz pochte wild. Warum war Wittgenstein nicht da, um ihr zu sagen, was die Spektren eigentlich machten?
Sie bringen dich nicht um … keine Sorge. Sie verbrennen dir nur von innen heraus das Gehirn. Auf ewig in der Klapse.
Als sie wieder hinsah, war die Gestalt verschwunden. Alice folgte der flachen Spur. Es waren kaum Abdrücke. Du bist ganz schön durchgeknallt, Alice, dachte sie. Wenn du die Wirklichkeit nicht mehr von deinen Alpträumen unterscheiden kannst, dann bist du reif für die Psychiatrie. Schreber wird sich schon um dich kümmern.
Es gibt mehrere Wirklichkeiten … sie überschneiden sich an manchen Stellen.
Die Gestalt musste ins Haus gegangen sein. Alice brauchte das Namensschild gar nicht zu lesen. Es war das älteste Haus im Dorf. Es gehörte Dr. Adibert Lehmko. Ihrem Klassenlehrer. Über dem Eingang stand wie vor jedem älteren Haus ein weiser Spruch. Meistens fromme Sprüche, was wohl den Eindruck vermitteln sollte, dass hier brave Christen wohnten.
Gott halte deine Hand über dieses Haus und seine Bewohner. Tritt ein, Fremder, und sei unser Gast. Ein frommes Mahl sei dir gewiss. 1911.
Alice hatte den verschnörkelten Text ganz gelesen, als die Tür aufging. Ihr Lehrer stand vor ihr.
25.
»Schön, dass du mich besuchen kommst, Alice.«
»Ich … war gerade hier, da dachte ich …«
»Na, komm rein. Trink einen Kakao. Ich sag Stephan, dass er eine Pause einlegen soll.«
Wo ist der verdammte Clown?
Lehmkos Haus war dunkel. Nur ein kleines Fenster neben der Tür warf einen schwachen Lichtschimmer in den Hauseingang.Eine Reihe von Winterstiefeln war an der Wand aufgereiht. Fein säuberlich auf Zeitungspapier, so dass es keine Pfützen gab. Das Haus roch muffig und feucht. Es war kaum wärmer als draußen.
»Komm rein in die warme Stubn. Ich hole Stephan.«
Lehmko verschwand über eine Treppe im ersten Stock. Die Stube war traditionell eingerichtet. In der Mitte ein gewaltiger Kachelofen, der eine schwere Hitze verbreitete. An den Wänden standen überall Bücherregale. Lediglich über der Eckbank hingen einige Teller vom Schützenverein und zwei Jagdtrophäen. Rehgeweihe. Selbst die Fenstersimse waren mit Büchern vollgestopft. Nur an einer Stelle waren keine Bücher. Genau über dem kleinen Altar mit Weihwasserschälchen und Jesuskreuz. Übereinander hingen Familienporträts und Familienaufnahmen. Den Aufnahmen nach mussten sie uralt sein. Vergilbtes Fotopapier. Auf den obersten waren zwei Männer in Uniform und Pickelhauben zu sehen. Alice kannte sie von den hölzernen Nussknackern, wie sie einen zu Hause hatte, und aus dem Geschichtsunterricht. Es war das Symbol der preußischen Armee. Oberst Ferdinand Lehmko. Neben ihm seine Frau, die ein kleines Kind im Arm hielt, und weitere Mitglieder der Familie.
Alice wusste nicht, dass Lehmko aus einer alten Familie stammte. Die anderen Familienfotografien ähnelten alle der ersten, so als hätte immer derselbe Fotograf die Leute geordnet und geknipst. Rechts das Familienoberhaupt, links von ihm seine Frau, daneben wahrscheinlich die Geschwister und in der ersten Reihe die Kinder. Das kleinste Kind trug die Mutter im Arm. Es war schon auffällig, dass keiner auf den Fotos lächelte. Vor allem auf den alten Aufnahmen nicht. Damals gab es wohl noch keinen Lachzwang bei Familienaufnahmen. Alice konnte Familienaufnahmen nicht ausstehen, vor allem nicht, wenn sie neben Amalia stehen
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