Die Eistoten: Thriller (German Edition)
seltsam war. Erst war es eine vorsichtige Ahnung. Die Familienfotos zeigten jedes Familienmitglied in derselben Position, obwohl zwischen ihnen Jahrzehnte lagen. Sogar ihr Lehrer und Stephan waren in der gleichen Haltung fotografiert worden. Aufrecht stehend, die Hände vor der Brust verschränkt. Auf einigen Bildern saßen in der ersten Reihe die Kinder. Ebenfalls mit geradem Rücken und verschränkten Armen. Die Übereinstimmung konnte ein Zufall sein.
Du solltest dir erst dann um deinen Verstand Sorgen machen, wenn du alles erklären kannst.
Da war dieses Gefühl plötzlich klarzusehen. Der menschliche Geist war eine Einrichtung der Natur, um Zusammenhänge zu schaffen. Auch dort, wo keine waren. Doch es war diese steifeHaltung der Lehmkos auf den Familienfotos, die Alice aufrüttelte … Die verschränkten Arme und diese verbissenen Mienen, so als wollten sie den Fotografen mit ihren Blicken lähmen. Es war dieselbe Haltung, in der man auch die Eistoten fand. Manche standen, andere hockten oder saßen. Alle mit verschränkten Armen und alle mit geschlossenen Lippen und weit offenen Augen, als starrten sie für die Ewigkeit ins Blitzlicht eines Fotografen.
Ihre Beine zitterten plötzlich. Nein, ihr Vater glaubte ihr nicht, und noch weniger würde ihr die Polizei glauben. Tom … Er meldete sich nicht. Sein Handy war ausgeschaltet. Er wusste doch, dass sie auf seinen Anruf wartete.
Alice legte sich aufs Bett und wartete, bis ihr Vater schlafen gegangen war. Es war nach Mitternacht, als es totenstill im Haus war. Nur der Eiswind blies von den Bergen und rüttelte an den Fensterläden. Auf Socken schlich sie die Treppe hinunter. Sie steckte ihren Schlüssel in die Tasche. Ihren Anorak zog sie erst vor der Tür an, um kein Geräusch zu machen. Sie musste vorsichtig sein. Als sie den dunklen Pfad durch den Schnee stapfte, hatte sie ein schneidendes Gefühl im Bauch. Sie hatte Angst. Sie hatte schon darüber gelesen, dass es Menschen gab, die vor Angst starben, aber sie hatte es noch nie gefühlt. Es war, als schnürte ihr jemand von innen die Lebensenergie ab. Unter ihr lag schon das Haus des Großvaters. Die Fenster waren dunkel.
30.
Wie konnte man seinen Haustürschlüssel einfach unter die Fußmatte legen? Weil dort jeder seinen Schlüssel versteckt, sagte ihr Großvater, und weil es jeder tut, wird keiner so dumm seinund es wirklich tun, und deshalb wird auch keiner nachsehen, ob dort auch wirklich ein Schlüssel liegt.
Alice konnte die Logik ihres Großvaters nicht nachvollziehen. Sie hob die Fußmatte an, doch da war zu ihrer Überraschung kein Schlüssel. Sie drückte die Türklinke nach unten. Es war nicht abgesperrt. Wenn man zu kompliziert dachte, stolperte man über das Einfache, und wenn es nur eine weggeworfene Colaflasche war oder eine offene Tür. Sie trat in das dunkle Haus. Ihr fiel ein, dass ihr Großvater gar nicht lange bleiben wollte und nur kurz bei ihnen zu Besuch war. Er wollte irgendetwas mit Vater besprechen. Seine Haustür hatte er wie immer nicht abgeschlossen.
Das Haus war kalt. Sie zog die Tür hinter sich zu und machte Licht. Eine offene Bierflasche stand auf dem Tisch in der Küche, ein noch sauberes Bierglas, ein Teller mit Brot und rotem Presssack. Das Glas mit scharfem Senf war offen. Auf der Messerspitze war Senf festgetrocknet. Es sah aus, als hätte ein Maler einen Augenblick festhalten wollen. Ihr Großvater hatte sein Abendessen unterbrochen. Sie stellte sich vor, wie er die Messerspitze in den Senf eintauchte, als das Telefon klingelte. Ihr Vater konnte der Anrufer gewesen sein. Was hatte Großvater dazu gebracht, so Hals über Kopf sein Abendessen zu unterbrechen und das Haus zu verlassen? Ihr Vater hatte ihr erzählt, dass er von einem Kollegen erfahren hatte, dass gegen Großvater ermittelt wurde. Kindermörder … Ob dieses Wort gefallen war, konnte Alice nicht mehr sagen, aber ihr Vater war nicht für sein Feingefühl bekannt.
Alice stieg in den ersten Stock, wo das Arbeitszimmer ihres Großvaters lag. Am auffälligsten war das alte graue Telefon, das ihr Großvater mühselig hatte umbauen lassen, damit er es noch benutzen konnte. Die neuen Telefone wurden immer kleiner und die Tasten auch. Selbst mit Brille konnte er sie nicht mehrlesen. Ein Riesenscheiß, hatte Großvater gesagt, eine völlig sinnlose Entwicklung. Die Telefone wurden immer kleiner und die Autos immer größer.
Wenn sie nur wüsste, wonach sie suchen sollte! Großvater hatte keinen Computer. Wenn
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