Die Elben - 02 - Die Könige der Elben
der Fluss in einen Meeresarm des östlichen Ozeans mündete.
Bis dorthin war Isidorn selbst schon vorgedrungen.
Am Flussufer wurde das Nachtlager errichtet. Auf der anderen Seite lag das geheimnisvolle Wilderland. Nur wenig war darüber bekannt. Fest stand aber, dass die Gefahren dort nicht nur von den Trorks ausgingen, sondern auch von der teilweise sehr urtümlichen Fauna und Flora, die dort seit Urzeiten beheimatet waren. Daher zog es Keandir vor, diese Nacht noch auf der bekannten Seite des Nor zu verbringen.
Davon abgesehen hoffte er natürlich noch immer, dass Sokranos und Mirgamir mit ihrer Gruppe vielleicht wieder zu ihnen stoßen würden.
Die Nacht war sternenklar, aber gegen Morgen zog Dunst vom Fluss herauf. Wie ein graues, wurmartiges Wesen, dessen Formen immer wieder auseinanderwaberten und sich aufzulösen schienen, schob sich der Nebel über den Fluss, und seine Schwaden krochen auch über die flache Uferböschung.
Keandir erwachte früh am Morgen. Da war die andere Seite des Flusses schon gar nicht mehr zu sehen; Keandir starrte in eine undurchdringliche, grauweiße Wand, die über dem Wasser schwebte. Er hatte in der Nacht kaum wirklich Ruhe finden können, denn wieder einmal hatten ihn Albträume heimgesucht. Er hatte die fünf noch existierenden Elbensteine vor sich gesehen. Sie leuchteten auf – und dann verloschen sie einer nach dem anderen, wurden zu einem Stück basaltartigem Gestein, so wie es mit Athrandil geschehen war, einem leblosen Brocken Gesteins, das keinen Wert und keine Seele mehr hatte. Und im Hintergrund hatte Keandir den Anführer der Axtkrieger erblickt, der mit dem geheimnisvollen Axtherrscher der Trorks wohl identisch war. Er hatte gurgelnde Laute aus dem Dunkel seiner Kapuze hervorgestoßen. Laute, die an ein Lachen erinnerten.
Der Axtherrscher hatte die Zauberstäbe des Augenlosen Sehers in den Händen gehalten, den hellen Stab mit dem geflügelten Affen aus Gold an der Spitze in der Rechten, den dunklen Stab mit dem geschrumpften Totenschädel in der Linken, während er seine monströse Axt auf dem Rücken getragen hatte.
Zu seinen Füßen krochen blasse Gestalten auf allen Vieren wie demütige Sklaven am Boden herum, fast wie Tiere. Es waren Trorks.
Aber dann hatte sich das Bild geändert. Die Zauberstäbe wurden dem Axtherrscher aus der Hand gerissen. Er streckte seine sechsfingrige Pranke aus, die sich in eine ganz gewöhnliche Hand verwandelte – so feingliedrig, wie sie für Elben kennzeichnend war. Dann griff er damit nach hinten, riss die schwere Axt hervor. Doch in diesem Moment hatte sich die Waffe verwandelt.
Sie wurde zu einem Schwert. Elbenstahl blinkte auf.
»Deiner armseligen Waffe wird man einst den Namen
›Elbentöter‹ geben, du Prinz der Finsternis!«, dröhnte die Stimme des Axtherrschers. Ein Licht ging von der Klinge aus und erhellte die Dunkelheit unter der Kapuze, sodass auf einmal das Gesicht zu erkennen war. Ein Gesicht von elbischem Ebenmaß und mit Augen, die vollkommen von Schwärze erfüllt waren.
»Magolas!«, stieß der König den Namen seines Sohnes hervor und erwachte.
Nun stand Keandir da und starrte in den Nebel. Es war kühl geworden. Der Traum hatte ihn bis ins Mark erschüttert. Er atmete tief ein und ließ den Blick über das Lager schweifen.
Die meisten seiner Männer schliefen noch. Die Wachen nahmen ihre Aufgabe sehr ernst. Der König spürte, wie ihm der Puls bis zum Hals schlug. »Deiner armseligen Waffe wird man einst den Namen ›Elbentöter‹ geben, du Prinz der Finsternis!«
Worte, die der Axtkrieger Magolas
entgegengeschleudert hatte, bevor der finstere Dieb mit seiner Beute in eine andere Sphäre entflohen war und Athrandil dabei vernichtet hatte. Worte, die Keandir ständig im Kopf widerhallten.
Er trat ans Wasser, schaute wieder auf die unnatürlich dichte Nebelbank. Ruwen!, dachte er. Achte auf unseren Sohn… Er lauschte in sich hinein, bis in die Tiefe seiner Seele. Bis zum Wald der toten Zentauren hatte er gespürt, dass ihn Ruwen mit ihren Gedanken begleitet hatte. Er wusste nicht, was danach geschehen war, aber die innere Verbindung war abgerissen.
Ein Geräusch ließ den König herumfahren. Es war der Hufschlag von Pferden, und Keandir spürte auch die leichten und sehr charakteristischen Erschütterungen.
Die Wachen hatten es auch gemerkt und gaben Alarm. Auch der Letzte unter den Kriegern, die mit König Keandir an die Grenze des Wilderlandes gezogen waren, hatte inzwischen begriffen, das
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