Die Elementare von Calderon
Weingeist, und plötzlich fühlte sie sich müde. So unglaublich müde.
Sie sah hinauf zu den Sternen, die dann und wann zwischen den hellen Wolken sichtbar wurden, und es überraschte sie, dass ihr nicht die Tränen kamen. Aber zum Weinen war sie einfach zu erschöpft.
Die Trommeln wurden geschlagen, Trompeten erteilten Befehle, die verschiedenen Signale riefen zu den Zenturien und Manipeln der Legion. Männer bezogen Posten auf der Mauer, andere holten Wasser, um später damit Feuer zu löschen. Wasserwirker, sowohl Legionsheiler wie Harger als auch Frauen und Töchter der Legionares , machten sich auf den Weg zu den geschützten Unterständen
innerhalb der Mauer, wo Wannen mit Wasser gefüllt wurden und man sich so auf die Behandlung Verwundeter vorbereitete. Feuerwirker sorgten für Licht auf der Mauer, während Windwirker aus der Ritterschaft von Kaserna in die Luft aufstiegen und Patrouille flogen, um einem Überraschungsangriff aus dem nächtlichen Himmel vorzubeugen. Erdwirker bemannten das Tor und die Mauern, und ihre Hände ruhten auf dem Stein der Befestigungsanlage, während sie ihre Elementare riefen und sich von ihnen Kraft holten.
Der Wind drehte, er kam jetzt aus nördlicher Richtung und wehte den Geruch des fernen Eismeeres, vermischt mit dem von Männern und Stahl, heran. Eine Zeit lang war am Horizont im Osten ein ferner Lichtschimmer zu sehen. In einer der Unterkünfte, in denen nun die Bewohner aus den Häusern vor der Mauer und aus der Stadt untergebracht waren, sangen Kinder gemeinsam ein Gute-Nacht-Lied.
Amara erhob sich aus dem Schatten, in dem sie gesessen hatte, und ging zu dem Tor, das in Richtung des Maratlandes blickte. Die Wachen unten an der Mauer riefen sie an, doch Zenturio Giraldi bemerkte sie und winkte sie vorbei. Sie stieg eine Leiter zum Wehrgang über dem Tor hinauf, wo Bogenschützen und Feuerwirker am dichtesten versammelt waren und sich darauf vorbereiteten, Tod und Verderben auf jeden herabhageln zu lassen, der es wagte, die Stadt stürmen zu wollen.
Giraldi stand bei Pirellus, der nun eine Rüstung aus glänzendem Stahl trug. Der Schwertkämpfer aus Parcia sah sie an und blickte dann hinaus in die Dunkelheit. »Bisher kein Zeichen für etwas Ungewöhnliches«, sagte er. »Keine Signalfeuer von den Wachtürmen.«
Leise meinte Giraldi: »Einer meiner Männer hat vor einiger Zeit etwas gesehen. Ein Kundschafter überprüft die Sache.«
Amara schluckte. »Ist der Mann schon zurück?«
»Noch nicht, Gräfin«, antwortete Giraldi besorgt. »Noch nicht.«
»Ruhe«, verlangte plötzlich einer der Legionares , ein schlaksiger junger Mann mit großen Ohren. Er hielt sich eine Hand ans Ohr und beugte sich über die Mauer. Cirrus drängte sich sanft an Amara und teilte ihr so mit, dass dieser Mann einen Windelementar zum Lauschen beschwor.
»Ein Pferd«, sagte der Soldat. »Ein Reiter.«
»Licht«, sagte Pirellus, und der Befehl hallte die Mauer entlang. Eine nach der anderen flammten Elementarlampen auf, blau und kalt, und erhellten die nächtliche Finsternis vor den Mauern.
Einen Moment lang lag die verschneite Landschaft still da. Dann konnte sie es hören, den Hufschlag eines galoppierenden Pferdes. Sekunden später erreichte Bernard den erleuchteten Bereich auf einem gehetzten Grauen, dem Schaum vor dem Mund stand und an den blutigen Flanken klebte. An einer Stelle hingen Hautfetzen herab, wo das verängstigte Tier verletzt worden war. Noch während Bernard näher kam, bockte das Pferd und wieherte, und Amara konnte sich gar nicht vorstellen, wie der Wehrhöfer sich im Sattel halten und reiten konnte.
»Macht das Tor auf!«, rief Bernard. »Lasst mich rein!«
Giraldi wartete bis zum letztmöglichen Augenblick, ehe er den Befehl erteilte, und sofort wurde das Tor geöffnet und hinter dem panischen Pferd wieder geschlossen, kaum dass es hindurch war. Ein Bursche rannte herbei und übernahm das Tier, das voller Angst ausschlug und bockte.
Bernard ließ sich aus dem Sattel gleiten und entfernte sich von dem Pferd, das nun auf den vereisten Steinen des Hofes ausrutschte und auf die Seite fiel. Amara sah die langen Wunden in der Flanke, die von Messern oder Krallen stammen mussten.
»Macht euch bereit«, keuchte Bernard, drehte sich um und stieg die Leiter zum Wehrgang hinauf. Der Wehrhöfer war blass geworden und hatte die Augen weit aufgerissen. »Die Kursorin hat Recht. Da draußen ist eine Horde, ungefähr zehntausend Marat, im Anmarsch auf Kaserna.«
36
Amara
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