Die Elenden von Lódz
einige Namen an.
Aus der Kammer rief Maman mit heiserer Stimme, Věra möge zu Roháneks an der Ecke laufen, um Garn zu kaufen. Sie habe beschlossen, sich wieder ans Nähen zu setzen. Maman hatte für die Familie genäht, als Martin und Josel noch klein waren. Auch damals hatte es »unruhige Zeiten« gegeben.
Am Tisch war Herr Tausendgeld ganz Ohr gewesen.
»Sie glaubt wohl, wieder zurück in Prag zu sein«, sagte er, und ein fast anerkennendes Lächeln erschien zwischen den Beulen in seinem Gesicht. Es wurde rasch deutlich, dass er bereits »alles von Wert« über Maman und ihre Krankheit wusste. Frau Schulz, sagte er, sei eine Person von höchstem Rang, die um jeden Preis gerettet werden müsse. Und als könnte er diese Sache nur im größten Vertrauen mitteilen, beugte er sich vor und flüsterte Professor Schulz zu, dass man von Seiten der Verwaltung bereits im Begriff stehe, ein spezielles Lager für all jene zu errichten, die den Schutz der Behörden genossen. Dieses Lager sollte in der Łagiewnicka liegen, direkt gegenüber dem nunmehr geräumten Spital. Die Verlegung dorthin sollte unter dem Schutz der gettoeigenen Wachmannschaften erfolgen, befehligt von Dawid Gertler persönlich, dessen Verdienst es war, diese einzigartige Übereinkunft mit den deutschen Behörden ausgehandelt zu haben.
Was kostet das?
, fragte Professor Schulz lediglich; und Herr Tausendgeld antwortete – ohne zu zögern oder auch nur den Blick von seinen Papieren zu heben, auf deren Rand er die Summe bereits niedergeschrieben hatte:
Dreißigtausend! Sie verlangen noch mehr für sozusagen noch außergewöhnlichere Personen, aber in Ihrem Fall, denke ich, werden dreißigtausend Mark ausreichen.
|249| Věra hatte das Gesicht ihres Vaters oft vor Zorn erblassen, die Aderknoten auf seinen Handrücken vortreten sehen, so als wollten sie gleich platzen. Diesmal aber gelang es Professor Schulz, seine Wut zu zügeln. Vielleicht lag es an Mamans belegter Stimme, die aus ihrer Kammer weiter beharrlich nach Věra rief. Ihre Krankheit hing wie ein unbegreifliches Schriftzeichen in der dicken, stickigen Luft über ihnen. Oder war die Situation, wie Věra später in ihrem Tagebuch vermerken sollte, derart absurd, dass sie nur zu begreifen war,
wenn man die ganze Welt für verrückt hielt
?
In Wahrheit, das verstand Věra erst später, hatte Professor Schulz bereits einen Entschluss gefasst. Sie würden die Wand zu Mamans Zimmerchen verschließen. Martin war auf die Idee mit der, wie er es nannte,
falschen Tapete
gekommen; eine normale Tapetenbahn, die man auf eine Holzplatte klebte, mit der man die Spundwand neben dem Spülbecken bedeckte. Die Kante der falschen Wand konnte man mit einer Messerklinge aufdrücken, die Abdeckung wegnehmen, um sie später erneut einzusetzen. Für Maman brachte die Sache kaum ein Risiko mit sich: es gab ja noch die Belüftungsklappe oben an der Wand, und da Papa Arzt war, konnte er sich einen Passierschein beschaffen und kommen und gehen, wann er wollte, was auch immer geschehen sollte.
»Du wirst sehen, das geht in Ordnung, Věra«, sagte er.
Sie fragte sich, woher sie kam: all diese unerschütterliche Überzeugung.
Doch die Sache eilte. Die neue Aussiedlungskommission hatte ihre Liste all der Personen bereits fertiggestellt, die statt »der Freigekauften« ausgeliefert werden sollten, und die Sonder war schon unterwegs und suchte sie in Fabriken und Wohnhäusern.
Am Nachmittag des dritten Tages nach Beginn der Aktion ließ der Judenälteste eine neue Bekanntmachung vor dem Büro des Meldeamts am Kirchplatz anschlagen. Von jetzt an, hieß es dort, nimmt das Einstellungsbüro beim Zentralen Arbeitsamt auch Arbeitsbewerbungen von Kindern
ab neun Jahren
entgegen.
Das konnte nur eins bedeuten:
Alle Kinder unter neun Jahren sollten ebenfalls deportiert werden!
|250| Erneut liefen die Leute wie wahnsinnig umher. Doch nicht zu den Gettospitälern und -kliniken, sondern zum Zentralen Arbeitsamt am Bałucki Rynek, vor dem sie stundenlang ausharrten, um ihre Kinder ins Arbeitsregister eintragen zu lassen, bevor es zu spät war.
Alle fragten nach dem Ältesten.
Wo ist der Herr Präses in dieser Stunde der Not, in der wir ihn am dringendsten brauchen? Morgen, hieß es; morgen auf dem Feuerwehrplatz in der Lutomierska wird er eine Rede an die Gettobevölkerung halten, die alle Fragen beantwortet.
*
Am frühen Abend ging Věra ein letztes Mal zu Maman in die Kammer. Maman sprach von der Familie Hoffman, die
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