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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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Stiefel. Benji weiß plötzlich nicht, wohin er gehen soll: weiter auf die Deutschen zu, die sich unerbittlich nähern, oder zurück zum Präses des Gettos, den er, wenn möglich, noch mehr fürchtet.
    Doch auch der Präses zieht sich nun zurück und sucht hastig Schutz hinter der Tür des Ärztezimmers.
    SS-Hauptscharführer Mühlhaus und zwei seiner Untergebenen eilen auf dem Korridor rasch vorüber, und im nächsten Augenblick ist das mechanische Knarren ihrer Stiefelsohlen und das Rasseln der Waffen am Lederkoppel der Uniformen bereits vom Echo des angrenzenden Treppenhauses verschluckt. Sobald das Geräusch der Schritte erstirbt, geht der Präses zum Medikamentenschrank, nimmt eine Emaillekanne aus dem untersten Fach und füllt sie mit Wasser aus einem Hahn am Spülbecken. Dann sucht er mit der Hand nach einer der weißen Tabletten, die er stets in der Jackentasche verwahrt, legt sie in ein Glas und füllt es mit Wasser aus der Kanne.
    Als er wieder in den Gang hinausschaut, ist Benji verschwunden. Er findet ihn in dem großen Saal direkt am Treppenhaus, hinter einem Berg umgeworfener Wandschirme und aufgeschlitzter Matratzen hockt er zusammengesunken an der weißgetünchten Wand. Benji zittert am ganzen Leib, von den Schultern bis zu den Fußknöcheln hinunter, doch er blickt nicht auf. Der Präses muss mehrmals seinen Namen nennen, mit unterschiedlicher Intonation, bevor sich der Kopf mit dem schweren, in die Stirn hängenden Haar hebt:
    Hier Benji, trink …!
    Benji schaut mit demselben vor Entsetzen ausgelaugten Blick zu ihm hoch, wie beim Vorbeimarschieren der Deutschen. Der Älteste muss sich vor ihn hocken, um ihm das Glas an den Mund zu führen. Benjis Lippen |244| saugen sich am Glasrand fest, und er trinkt wie ein Kind, mit großen, hastigen Schlucken. Der Älteste legt ihm behutsam die Hand in den Nacken, um ihn zu stützen und ihm zu helfen.
    Und es ist einfach. Er denkt an seine Frau. Könnte mit ihr doch alles ebenso einfach sein.
    Benji schaut ein einziges Mal zu ihm auf, fast mit Dankbarkeit. Dann wirkt das Gift, und sein Blick wird glasig. Seinen Körper durchfährt ein langes spastisches Zucken, das irgendwo am Kopf beginnt und an den Beinen endet, wo die Fersen einen kurzen Moment krampfhaft ausschlagen, dann gleichsam in ihrer eigenen Bewegung erstarren. Ohne dass er genau weiß, wann oder wie es dazu gekommen ist, sitzt er da und hält den toten Körper seines Schwagers in den Armen.

 
    |245| Von den sechs Gettospitälern war das Krankenhaus Nr. 1 in der Łagiewnicka das größte. Das Haus war in einem Viereck erbaut, mit zwei Flügeln, die einen offenen Hof umrahmten. Folglich konnte man sich dem Gebäude aus verschiedenen Richtungen nähern.
    In dem verzweifelten Versuch, mit ihrem Vater Kontakt aufzunehmen, benutzte Věra einen Schleichweg durch dichtes Gebüsch zwischen Baracken und Schuppen und gelangte zu einem separaten Eingang der Mütterfürsorgeabteilung des Krankenhauses. Mehrere Fahrzeuge waren bereits vorgefahren und parkten hier mit ihren Anhängern. Um die Fahrerhäuschen und auf den Ladeflächen standen oder saßen Deutsche in feldgrauen Uniformen und mit hohen blanken Stiefeln untätig herum. Die Passivität der Männer war jedoch nur vorgetäuscht. Věra hatte schon fast die Rampe am Hintereingang des Spitals erreicht, als ein scharfer Pfiff die Luft durchschnitt. Als sie aufblickte, sah sie, dass sich in einem weit offen stehenden Fenster im dritten Stock ein Uniformierter zeigte. Kurz darauf wurde ein nackter Säugling über die Kante gestoßen und fiel kopfüber auf die bereitgestellten Wagen.
    Einer der Deutschen auf der Ladefläche – ein junger Mann mit dickem, weizenblondem Haar und einer Uniform, die mehrere Nummern zu groß schien – stand auf und winkte dem Kollegen im dritten Stock mit seinem Gewehr zu. Seine Jackenärmel waren derart weit, dass er sie umkrempeln musste, um das Bajonett fixieren zu können. Dann stand er breitbeinig da und schaute lachend zu, wie weitere schreiende Säuglinge hilflos von der Fensterbrüstung trudelten. Sobald es ihm gelang, eins der Kinder aufzuspießen, hob er das Gewehr triumphierend in die Luft, und das Blut lief ihm über die hochgekrempelten Ärmel.
    Weiter oben im Haus musste jemand gesehen haben, was sich abspielte, denn rundum öffneten sich nun andere Fenster, und plötzlich hörte man Menschen auf Jiddisch und Polnisch schreien:
    |246|
Mörder, Mörder …!
    Věra wusste nicht, was sie tun sollte. Als wären sie

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