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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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all die Jahre in der Mánesova neben ihnen gewohnt hatte.
Wir sind in Łódź, Mama, nicht in Prag
, sagte Věra. Aber die Mutter blieb hartnäckig. Nacht für Nacht höre sie deren jüngste Tochter im Flur vor der verplombten Wohnung nach ihren ausgewiesenen Eltern rufen.
    Věra trug ihr das Becken hinein und fütterte Maman mit in Wasser aufgeweichten Brotstückchen. Kurz darauf kamen auch Martin und Josel in die Kammer. Zu diesem Zeitpunkt verstand selbst Maman, dass nichts mehr war wie sonst. Sie schaute mit leerem, unstetem Blick von einem ihrer Kinder zum anderen. Arnošt setzte ihr die Injektion in den Arm, und ihr Kopf fiel ihm wie ein Lappen in die Hände. Dann verschlossen Martin und Josel die Wand. Arnošt hatte bereits einen Totenschein ausstellen lassen. Er sagte, es sei das Beste, wenn sie an Maman möglichst nicht als eine noch lebende Person dachten, zumindest nicht während der nächsten kritischen Tage.
    Dennoch konnte Věra nicht anders, sie hörte Mamans Herz hinter der geschlossenen Wand schlagen. In dieser Nacht und all den folgenden war ihr, als würde nicht nur die Wand, sondern auch der ganze Raum, in dem sie alle vier lagen, durch Mamans unsichtbaren Herzschlag vibrieren und schwanken.

 
    |251| Am Nachmittag des 3. September 1942 bestellten die Behörden den Präses des Gettos aufs Neue ein. Er stand vor ihnen, wie er immer dastand, den Kopf gesenkt, die Hände an der Hosennaht.
    Es waren Biebow, Czarnulla, Fuchs und Ribbe.
    Biebow sagte, dass er den Vorschlag des Ältesten, die Kranken und Alten gehen zu lassen, die Kinder indes zu schonen, gründlich durchdacht habe.
     
    Es liegt natürlich eine gewisse Logik in ihrer Argumentation, Rumkowski, aber die Anweisung, die wir aus Berlin erhalten haben, lässt für ein solches Entgegenkommen keinen Spielraum. Sämtliche Gettobewohner, die nicht für ihre eigene Versorgung aufkommen können, müssen das Getto ausnahmslos verlassen. So lautet die Anweisung, und die betrifft auch die Kinder.
     
    Biebow erklärte weiter, er habe selbst Berechnungen anstellen lassen und gemäß dieser müsse es im Getto mindestens zwanzigtausend Arbeitsunfähige geben, die Mehrzahl davon Alte und Kinder. Würde man sich dieser
Unbrauchbaren
erst entledigen, hätte Berlin keinen Grund mehr, sich in die »inneren« Angelegenheiten des Gettos einzumischen.
    Rumkowski gab zur Antwort, das sei ein Befehl, den kein Mensch ausführen könne. »Kein Mensch gibt freiwillig seine eigenen Kinder her.«
    Biebow erwiderte darauf, Rumkowski habe seine Chance gehabt und sie verspielt.
     
    Sie hatten Wochen und Monate Zeit, Rumkowski, was aber haben Sie getan? Sie haben jede Gelegenheit genutzt, um sich zu drücken. Sie haben Kinder mit Arbeit versorgt, die kaum wissen, was beim Hohlsaum
|252|
vorn und hinten ist. Aus den Krankenhäusern haben Sie Erholungsheime gemacht …! Und das, während unsere Verwaltung alles in ihrer Macht Stehende tut, um Ihnen die Versorgungslage zu sichern.
     
    Dann sagte Fuchs:
     
    Sie müssen bedenken, welch heroischen Kriegseinsatz wir führen, Herr Rumkowski. Der erfordert Opfer von allen.
     
    Ribbe sagte darauf:
     
    Wie können Sie überhaupt auf den Gedanken kommen, dass wir Zeit und Kraft dafür aufbringen würden, simplen Juden unter die Arme zu greifen, in einer Phase, in der Deutsche aufgrund der feigen Bombenangriffe der Alliierten alles, was sie besitzen, verlassen müssen? Sind Sie wirklich so naiv zu glauben, dass wir diese soziale Wohltätigkeit in alle Ewigkeit weiterführen werden, Herr Rumkowski?
     
    Rumkowski fragte darauf, ob sie ihm Zeit gewähren könnten, die Sache zu überdenken und mit seinen Mitarbeitern zu beraten. Sie erwiderten, es gebe keine Zeit. Sie sagten, wenn er nicht innerhalb von zwölf Stunden vollständige Listen aller Gettobewohner über fünfundsechzig und unter zehn Jahren überreiche, würden Sie die Aktion selbst in die Hand nehmen.
    Czarnulla sagte weiter:
     
    Das Getto ist eine Pestzone, ein Abszess, der gesäubert werden muss.
    Tun Sie es jetzt ein für alle Mal, dann können Sie auf ein Überleben hoffen.
    Tun Sie es nicht, werden Sie keine Chance haben.

 
    |253| Die Versammlung auf dem Feuerwehrplatz in der Lutomierska ist für halb vier Uhr nachmittags anberaumt, die Leute aber haben sich bereits seit zwei auf dem großen offenen Areal eingefunden. Um diese Zeit steht die Sonne hoch am Himmel, und das weitläufige steinige Gelände zwischen den beiden Hinterhäusern ist zu einem Brunnen aus

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