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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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lärmen und schreien und zielt mit einer weitschwingenden Bewegung seines Gewehrkolbens direkt auf ihr Gesicht.
    Der Schlag trifft die Frau mitten auf den Kieferknochen, und etwas Großes, Glitschiges fährt ihr in einem blutigen Regen aus dem Mund.
    Er wendet sich angewidert ab.
    Da bemerkt er, dass der Eingang zum Spital unbewacht ist. Die Wachtposten, die dort zuvor gestanden haben, sind allesamt fortgestürmt, um einem Patienten, der aus einem Fenster im zweiten Stock zu entkommen sucht, den Fluchtweg abzuschneiden. Der Fliehende ist mit einem viel zu großen blau-weiß gestreiften Hemd bekleidet, das wie eine Gardine über Oberkörper und Gesicht hängen bleibt, als er nach vorn fällt und mit den Armen verzweifelt in alle Richtungen rudert. (Der einzige Grund, warum der Mann nicht kopfüber zu Boden stürzt, ist die Tatsache, dass sich jemand plötzlich aus dem Zimmer gestreckt und ihn bei den Fußknöcheln gepackt hat.)
    Der Älteste nutzt die Gelegenheit, durch das halboffene Tor ins Krankenhaus zu schlüpfen, und mit einem Mal ist er wie abgeschirmt von den Schreien und dem betäubenden Befehlsgebrüll. Es ist, als befände er sich in einer anderen Welt.
    Unter den Stiefelsohlen knirscht zersplittertes Glas.
    Langsam steigt er die breite Wendeltreppe hinauf, seine Schritte hallen unter dem hohen Steingewölbe wider; dann geht er die dunklen Gänge hinunter und schaut hier und da in die nun menschenleeren Säle zu beiden Seiten.
    Als er mit Regina das letzte Mal in diesem Haus zu Besuch weilte, haben in jedem Saal zumindest zweihundert Männer gelegen; in jedem Bett zwei Patienten, Kopf an Fuß, wie Buben und Könige auf Spielkarten: einer mit dem Kopf nach unten, der andere mit dem Kopf nach oben. Er erinnert sich, wie sie alle mit ihren zahnlosen, doppelschäftigen Köpfen gelächelt und ihn wie aus einem Mund gegrüßt hatten:
     
    GUTEN MORGEN, HERR PRÄSES –
     
    |242| Nur Benji hat es vorgezogen zu schweigen. In einstudierter Denkerpose stand er am Fenster, das Kinn in die Hand gestützt. Der Älteste versucht sich nun verzweifelt zu erinnern, wie die Nummer des Saales lautet, in dem Benji liegt. Durch all die Verwüstung scheint das Spital jedoch zu einem fremden Ort geworden zu sein. Unbekannt, unmöglich sich darin zurechtzufinden.
    Eher durch Zufall erblickt er ein Ärztezimmer am Ende eines der Gänge, und nahezu erleichtert tritt er ein. Auf einem Regal dicht an der Tür stehen Ordner mit Einkaufslisten und Krankenblättern und auf dem Schreibtisch ein Telefon, den Hörer auf der Gabel.
    Während er es noch betrachtet, beginnt es absurderweise zu läuten.
    Einen Augenblick packt ihn Verwirrung. Soll er den Hörer abnehmen und sich melden? Oder wird das Signal nur deutsche Kommandoführer anlocken, die ihn, sobald sie ihn erblicken, des Gebäudes verweisen werden?
    Am Ende weicht er wieder in den Korridor zurück. Da steht Benji dort.
    Er bemerkt ihn am Rande des Blickfelds, lange bevor er begreift, dass es Benji ist. Die Türen der Säle stehen sämtlich offen, und das Licht fällt in langen, staubigen Streifen und Tunneln auf den Gang. Das Licht aber, das Benji für ihn hervorhebt, kommt nicht von der Seite, sondern von oben – von der Decke –, was freilich unmöglich ist: Dort gibt es keine Fenster. Benji steckt wie all die anderen Patienten in einem blauweiß gestreiften Hemd, und er steht ein wenig vorgebeugt, die Hände halten die Rückenlehne eines Stuhls umfasst, dessen vier Beine in seine Richtung weisen, so als wollte er sich gegen etwas verteidigen.
    Gegen wen? Gegen ihn? Der Älteste macht ein paar Schritte in das gänzlich unmögliche Licht:
    Benji, ich bin es
, sagt er nur und versucht zu lächeln.
    Benji weicht zurück. Von seinen verzerrten Lippen dringt ein seltsam singender oder pfeifender Laut.
    Benji…?
, sagt er nur. Er will, dass seine Stimme Unruhe und Fürsorge ausdrückt, doch als sie aus seinem Mund kommt, klingt sie nur verlogen und falsch:
    Been-j-ii, ich bin gekommen, um dich von hier wegzuholen, Been-jii…
    |243| Da wirft sich Benji nach vorn. Die vier Stuhlbeine treffen den Ältesten direkt in die Brust, und sofort lässt Benji den Stuhl fallen, als hätte er sich an ihm verbrannt, und rennt davon. Bleibt dann aber ebenso plötzlich stehen.
    Als wäre er gegen eine Wand gelaufen.
    Da hört der Älteste sie ebenfalls. Laute, geräuschvolle Stimmen –
deutsche Stimmen!
– schallen aus dem Treppenhaus herauf, gefolgt vom scharrenden Echo energisch stapfender

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