Die Elenden von Lódz
von dem Lärm noch angespornt worden, wimmelte es in den Fenstern des dritten Stocks plötzlich von Deutschen. Jeder von ihnen hielt einen Säugling gleichsam mütterlich an die Uniformbrust gedrückt.
Da verlor auch Věra die Beherrschung und begann zu schreien.
Das Gesicht des lachenden Burschen auf der Ladefläche wurde vor Verwunderung zu einem großen O. Ungeduldig hatte er im nächsten Augenblick das blutige Bündel von der Bajonettspitze gerissen und das Gewehr auf sie gerichtet.
Die plötzliche Salve riss dicht über ihrem Kopf Laub und Holzsplitter vom Barackendach. Sie duckte sich und rannte, und aus den Büschen rundum tauchten andere laufende Menschen auf. Einige in Patientenhemden, andere fast völlig unbekleidet: meist Frauen und ältere Männer. Ihr plötzlicher Schrei und die darauffolgenden Schüsse hatten die Menschen aus ihren provisorischen Verstecken getrieben, und nun rannten alle – mit großen, angstvollen Stelzschritten –, während die deutschen Gewehrsalven um die Körper, die noch nicht am Boden lagen, weitere Sand- und Graswolken aufpeitschten.
*
In der Mittagspause stand sie mit ihrem Blechnapf in der Schlange vor der Suppenküche in der Jakuba, und die Sonne schien unbarmherzig auf ihren ungeschützten Kopf, es brannte, als hätte sie unter der Haut eine große, offene Wunde.
Fast jeder in der Suppenschlange hatte Familie und Verwandte in den Gettospitälern, und fast alle konnten ähnliche Geschichten erzählen: von Kindern, die aus der Entbindungsstation direkt in die unten wartenden Wagen geschleudert worden waren; von gebrechlichen alten Leuten, die aus ihren Stationen gewankt kamen und von Bajonetten aufgespießt oder erschossen wurden. Nur sehr wenigen der aus den Spitälern Zurückkehrenden war es geglückt, ihre Angehörigen mit nach Hause zu nehmen.
Es ging das Gerücht, dem Ältesten wäre es nach langen Verhandlungen |247| gelungen, die Behörden bei einigen besonders hochgestellten Kranken zu einer Ausnahme zu bewegen, doch ausschließlich unter der Bedingung, dass andere an ihrer Stelle zur Deportation freigegeben wurden. Eine neue Aussiedlungskommission war einberufen worden, um die Patientenregister durchzugehen, auf der Jagd nach Personen, die zuvor eingewiesen, aber bereits wieder entlassen worden waren, oder nach Patienten, die um eine Aufnahme ersucht hatten, doch abgelehnt worden waren, weil ihnen die notwendigen Kontakte fehlten; alles kam in Betracht, jeder Beliebige: die Hauptsache war, sie konnten die Stelle der
wenigen Unersetzlichen
einnehmen, auf die die Führungsgilde nach eigener Aussage keinesfalls verzichten konnte.
Es ist eine Schande, eine große Schande …!
, hörte man Herrn Moszkowski sagen, als er in dem wirbelnden Staub zwischen den Webstühlen umherging. Es war, als würde ihm jemand unablässig einen Stock in die Seite stoßen. Kaum dass er sich hingesetzt hatte, war er schon wieder auf den Beinen.
Gegen Abend verbreitete sich die Nachricht, dass der Schwiegervater des Ältesten wie auch mehrere Angehörige und enge Freunde von Jakubowicz und Polizeichef Rozenblat freigekauft worden waren, weil
Ersatzpersonen
an ihre Stelle traten. Nur seinen Schwager, den jungen Benjamin Wajnberger, hatte der Präses nicht wieder von den Traktoranhängern herunterholen können, aus dem einfachen Grund, weil offenbar niemand mehr sagen konnte, wo er sich befand. Im Krankenhaus war keine Spur von ihm zu finden; auch in keinem der provisorisch eingerichteten Sammellager war er gesichtet worden. Hatte er etwa zu fliehen versucht und war einer deutschen Patrouille in die Arme gelaufen? Regina Rumkowska war niedergeschmettert und sagte, sie befürchte das Schlimmste.
Bereits am ersten Abend hatte die Familie Schulz Besuch von einem gewissen Herrn Tausendgeld bekommen, der sich um den Freikauf kümmerte.
Lange Zeit später, als von seinem gewaltsamen Tod in Händen der deutschen Folterer berichtet wurde, sollte Věra versuchen, sich sein Gesicht ins Gedächtnis zu rufen. Das Bild des Herrn Tausendgeld aber |248| blieb ebenso undeutlich wie damals, als er mit ihnen im Küchenalkoven neben Mamans Kammer saß. Sie erinnerte sich an ein Gesicht voller Buckel und Beulen, zwischen denen ein Mund mit kleinen nadelscharfen Zähnen saß, die bei jedem Lächeln sichtbar wurden. Mit seinen langen, schmalen, seltsam bleichen Händen hatte er etwas, das aussah wie lange Namenslisten, auf dem Tisch ausgebreitet und gab sich beim Sprechen den Anschein, als kreuze er
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