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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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rund um die schaukelnde Ladefläche, auf der sie sitzt. Straßen, die in ihrer Erinnerung voller Leute waren, ziehen unwirklich |272| leer vorüber. Ab und an passiert der Konvoi einen deutschen Wachtposten; deutsche Gendarmen stehen reglos in ihren Schilderhäuschen oder als rauchende Grüppchen an den Schlagbäumen.
    Dann geht ein Ruck durch die Ladefläche, und der Wagen steht erneut still. Hände lösen die Sperrhaken an der Rückwand, und die Gesichter der Schupos tauchen über der Kante auf, man schreit ihnen zu abzusteigen. Jenseits des Schotterplatzes, auf dem auch die anderen Lastwagen gehalten haben, sieht man die steinerne Eingangstreppe zum Krankenhaus in der Drewnowska.
    Das Spital liegt direkt an der Gettogrenze – doch wo ehemals die Stacheldrahtabsperrung verlief, steht nur noch der Wachturm. Alle Hindernisse scheinen beiseitegeräumt zu sein, und die deutschen Armeefahrzeuge haben freie Zufahrt über die zuvor unpassierbare Grenze. Auch das Spital ist kein Krankenhaus mehr. Es gleicht mehr einer Art Speicher oder Kaserne. Die Schupos treiben sie in ein enges, leeres Treppenhaus, dessen Boden mit zersplittertem Glas bedeckt ist, auf den Stufen zum Obergeschoss liegen schmutzige Kleider und Lakenfetzen. Wie dunkle Tunnel öffnen sich von hier aus die Gänge. Es gibt keinen Strom. Nachdem sie eine Weile im Finstern umhergetappt sind, treibt man sie in einen großen Raum, offenbar einen früheren Krankensaal. Doch es gibt keine Betten darin, nur einen schmutzigen Fußboden vor einem Fenster, durch das, gesättigt und dick, das letzte verbliebene Sonnenlicht hereinquillt.
    Sie tut, was sie kann, um die ihr anvertrauten Kinder um sich zu scharen.
    Staszek ist da; Liba und die Zwillinge ebenso. Sie geht auf den Korridor hinaus und ruft nach Sofie und Nataniel, die sich in einen anderen Raum verirrt haben.
    Bald verschwindet die Sonne aus dem Fenster, und dieselbe Finsternis wie zuvor auf den Gängen breitet sich nun langsam in den hallenden Krankensälen aus. Es wird kalt. Vor Durst haben die jüngsten Kinder starre, weiße Lippen. Doch niemand bringt ihnen Brot oder Wasser. Sie hat einen halben Laib trockenes Brot in der Tasche, zieht ihn heraus und teilt jedem ein Stück davon zu. Dann sitzen sie schweigend in der fortschreitenden Dämmerung. Von draußen hört man die überladenen |273| Militärfahrzeuge erneut lärmend näher kommen. Das Geräusch wächst zu einem Dröhnen an; dann wird es langsam schwächer. Ein paar deutsche Truppführer hört man ihre entsetzlichen Befehle quer durch die leeren Korridore brüllen, die sich dann um den Laut wie um etwas Obszönes schließen. Sie hört Schritte, die sich in ihrem Echo vorwärtsschleppen; das Geräusch weinender und schreiender Kinder irgendwo ganz in der Nähe, doch außer Sichtweite.
    Aber nicht nur Kinder gibt es hier, auch Erwachsene. Von dem Schlafplatz aus, den sie unterm Fenster mit Beschlag belegen konnte, meint sie Rumkowskis Vertrauten, Rabbi Fajner, mit seinem großen weißen Bart zu erkennen. Neben ihm steht ein anderer Rabbi und betet, das Gesicht weißgekerbt und bartlos, wie ein Vogelskelett unter den herabhängenden Fransen des Gebetsschals. Und überall um sie herum hört sie andere Erwachsene ihre schweren Körper in den Raum schleppen, dann abrupt still werden (oder die Kinder ermahnen, still zu sein), beinahe, als hätten sie ein Heiligtum betreten.
    Und schließlich ist das letzte Licht verschwunden. Und es ist kalt: Vom nackten Steinboden dringt die Kälte wie eine hartgespannte Saite durch den Körper.
    Doch die ganze Nacht bis in die Morgenstunden ist das Dröhnen der Lastwagen zu hören, die anhalten und erneut losfahren, ohne auch nur ein einziges Mal den Motor abzustellen; und bald schon ist das Gedränge im Saal derart groß, dass Rosa nur Platz unterm Fenster hat, wenn sie mit angezogenen Beinen dasitzt. Mit Sofie auf dem Schoß und Libas Kopf in den Armen gelingt es ihr dennoch, sich einen kurzen Moment der Ruhe zu gönnen.
    *
    In dem Lärm und Gedränge, die gestern auf den Ladeflächen der Wagen herrschten, ist Frau Goldberg wie von der Erde verschluckt gewesen. Nun, am Morgen, ist sie wieder da. Im selben korrekten Kostüm und mit ebenso knallrot geschminkten Lippen steht sie in dem bleichen Dämmerlicht im Krankenhaussaal und bedeutet Rosa, sich zu erheben und die Kinder mit nach draußen zu bringen.
    |274| Rosa hat Staszek und Liba an der einen und Sofie und Natan an der anderen Hand. Sie gehen durch die Gänge, die

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