Die Elenden von Lódz
jetzt von stillem, nacktem, gleichsam bebendem Licht erfüllt sind. In den Türöffnungen warten Kinder, die Beine unter sich gekreuzt oder an Brust und Kinn gepresst. Einige halten sich krampfhaft an ihren Suppengefäßen oder Rucksäcken fest. Andere wiegen sich langsam hin und her, die Köpfe zwischen die hochgezogenen Knie geklemmt.
In dem dünnen quecksilberfarbenen Licht unten auf dem Hof warten bereits die Lastwagen. Heute sind es noch mehr an der Zahl; bestimmt zehn bis fünfzehn. Von der breiten Steintreppe am Spitaleingang bis hin zu den Wagen bilden Schupos mit Schnellfeuergewehren gewissermaßen eine lange, Wache haltende Mauer.
Als Rosa mit den Kindern an dieser Schupomauer entlanggeht, erblickt sie Rumkowski. Er hat seinen Wagen dicht an der Treppe parken lassen, so dass die Kinder allesamt an ihm vorüber müssen, bevor man sie auf eine der wartenden Ladeflächen hebt. Und je näher sie ihm kommt, desto mehr wird sie sich seines minutiös prüfenden Blicks bewusst, den er über jedes der Kinder gleiten lässt. Die Mageren, Hinkenden und Verwachsenen: An ihnen schweift der Blick des Präses vorbei. Er sucht nach dem einzigen
vollendeten
Kind, das ihm als Rehabilitierung dienen könnte für all jene Tausende, die er hatte opfern müssen. Und jetzt sieht sie auch, wie sich auf seinem Gesicht jenes Lächeln ausbreitet, das sie so oft bemerkt hat, doch nie deuten konnte.
Er lächelt, aber es ist kein Lächeln –
Von hinten reißt jemand Staszeks Hand aus der ihren, und mit einem Mal weiß sie nicht, wohin sie gehen soll. Staszek hinterher, dessen protestierender Schrei sie wie ein Stoß durchfährt, oder zu den anderen Kindern, die weiter vorn nach ihr rufen. Mehrere von ihnen stehen bereits auf der Ladefläche; und es ist zu spät, zu Rumkowski zurückzukehren.
Sie sieht, wie der Alte sich vorbeugt und dem Kutscher bedeutet, Staszek in den Wagen hinaufzuhelfen.
Ich bin es
, hört sie ihn zu dem Kind sagen, es klingt wie eine Parodie jener Stimme, die sie all die Jahre vernommen hat. Pan Śmierć.
|275| Der Kutscher hat das Pferd bereits wenden können, und das Gespann rollt langsam davon, fort von den vollbeladenen deutschen Pritschenwagen, die zur gleichen Zeit vorbei an den beiseitegeschobenen Stacheldrahthindernissen nach draußen fahren: zurück in die Sicherheit des Gettos.
|277| II
Das Kind
(September 1942 – Januar 1944)
|279|
Dein Wille geschehe, der Du uns Elende hörst, die wir zu Dir flehen, der all unser Seufzen und Klagen hört, das aus unserem Herzen aufsteigt morgens, mittags und abends. Bald ertragen wir es nicht mehr. Keiner ist da, der uns führt, keiner, der uns stützt, auch keiner, an den wir uns wenden können, keiner außer Dir, Herr, der Tag für Tag eine Flut der Rache, der Hungersnot, des Schwertes, des Schreckens und der Panik über uns hat regnen lassen. Am Morgen sagen wir: »Wäre es doch erst Abend.« Und am Abend sagen wir: »Wäre es doch erst Morgen.« Niemand weiß mehr, wer aus Deiner Schar überleben und wer Plünderern und Gewalttätern zum Opfer fallen wird. Wir bitten Dich, unser Vater im Himmel, dass Du Israels Volk in sein Land zurückführst, seine Söhne in die Arme ihrer Mütter und die Väter zu ihren Söhnen. Schenk der Welt Frieden und nimm fort den bösen Wind, der über uns hinwegfegt. Löse die Fesseln von unseren Beinen und befreie uns von unseren zerrissenen, schmutzigen Kleidern. Lass zurückkehren in ihr Heim, die fortgeführt, deportiert oder gefangen wurden. Schütze sie, wo immer sie sich befinden, vor allem Bösen, aller Verwüstung, aller Krankheit und aller Rache, und lass uns endlich vom Schmerz zur Linderung gelangen, von Finsternis zum Licht, auf dass wir Dir dienen mögen aus ganzem Herzen und Deinen heiligen Sabbat und Deine Feste in Freude feiern. Erleuchte und führe uns in Deiner Macht, und lass Deine Zeichen sichtbar werden, damit wir deutlich sehen mögen, wie der Herr sein eigenes Volk aus der Gefangenschaft erlöst. An jenem Tag wird Jakob jubeln, und ganz Israel wird sich freuen, und niemand, der seine Zuflucht gesucht bei Dir, wird noch Scham und Erniedrigung empfinden. Lass, Herr, in Bälde und ohne Zögern den Gerechten Genugtuung widerfahren, und lass uns alle
sagen: Amen …
Aus einem Gebet, geschrieben auf Hebräisch an eine der Wände
im Gebetsraum der Podrzeczna 8 (angesichts von Rosch Haschana
und dem Versöhnungstag 1941).
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Aus der Gettochronik
Litzmannstadt Getto, Samstag, den 1. Januar
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