Die Elenden von Lódz
Bewacher versammelt sind. Etwa zehn Meter entfernt sind zwei Ordonnanzwagen vorgefahren, an der Seite des einen die Inschrift GETTOVERWALTUNG. Von diesen sieht Rosa Hans Biebow persönlich auf sie zukommen. Er ist gekleidet, als käme er von einem Jagdausflug, trägt weite Stiefelhosen und das Gewehr an einem Riemen über der Schulter.
|270| Er scheint über etwas empört zu sein. Wieder und wieder dreht er sich um, ruft und gestikuliert. »Es kommen zu viele Kinder gleichzeitig, es geht zu schnell.«
Einige der jüdischen Polizisten, die mit ihren Schirmmützen und hohen blanken Stiefeln ratlos dagestanden haben, setzen sich plötzlich in Bewegung und schieben und stoßen den anwachsenden Haufen rückwärts und dichter zusammen.
Die Kinder sollen gezählt werden.
Also müssen alle erneut Aufstellung nehmen. Jedes Kinderheim für sich. Sechs Gruppen.
Nun aber hat die Unruhe auch auf die Kinder übergegriffen. Etliche von ihnen haben Ähnliches schon früher erlebt. Sie schieben sich nervös zwischen den Beinen der anderen vor; mehrere versuchen zu entwischen, werden aber von jüdischen Polizisten gepackt, die es sogar wagen loszusprinten, um sie einzufangen. Ein Mädchen in einer abgewetzten grauen Wolljacke weint plötzlich laut los. Rosa wirft einen ängstlichen Blick auf ihre eigene Gruppe. Staszek wirkt starr vor Angst. Zur selben Zeit nähert sich Biebow in Begleitung zweier SS-Offiziere in wadenlangen schwarzen Mänteln.
Einer von ihnen, ein Mann mit runder Nickelbrille, wie Himmler sie trägt, hält ein Bündel Papiere in der Hand. Von den unteren Reihen der angetretenen Kinder klingen wütende deutsche Befehle herüber, dass die Zählung zu wiederholen ist.
Die Sonne steht jetzt hoch am Himmel, Rosas vor Schweiß und Hitze aufgescheuerter Nacken brennt.
Vor ihr steht Frau Goldberg vom Sekretariat Wołkowna in ihrem engen Rock mit Schlitz und mahnt jemanden weiter hinten zur Ordnung. Biebow und seine Männer kommen näher.
Plötzlich rennt ein junger Bursche in kurzen Hosen und mit Baskenmütze über die stopplige Grasfläche. Von Rosas Standort aus ist es offensichtlich, wohin der Junge zu laufen gedenkt. Im Sonnenglast jenseits des Großen Feldes erkennt man die verlockend flirrenden Wellblechdächer der Gartenschuppen entlang der Bracka. Wenn er es nur bis dahin schafft.
|271| Neben ihr gibt ein Posten ein lautes Gebrüll von sich. Sie hört das Rasseln des Koppels, als er das Schnellfeuergewehr loshakt und anlegt. Sie sieht den Rucksack auf den Schultern des Jungen hüpfen, die Beine darunter wie Trommelstöcke wirbeln. In der nächsten Sekunde erklingt das trockene Geräusch eines Schusses. Doch nicht der Posten schießt. Über dem plötzlich unsicher schwankenden Visier am Gewehr desselben sieht sie, dass auch Biebow die Waffe erhoben hat; erneut ein Schuss aus Biebows Gewehr – und weit hinten fällt der Junge außer Sicht in den hohen Graswall.
Plötzlich ist alles um sie herum ein Gewühl rennender Beine und schlingernder Leiber. Sie hält Staszek fest bei der Hand, die schreiende Sofia an der anderen. Aus Furcht, niedergetrampelt zu werden, wagt sie es nicht, sich umzudrehen, bewegt sich nur ebenso steif und gerade in Nacken und Schultern wie alle anderen weiter, die in dem Gedränge nun vorwärtsgetrieben werden. Von den Kindern, die sie nicht selbst an der Hand hält, sieht sie nur Liba und Nataniel. Die Zwillinge kann sie nirgendwo entdecken. Dann erblickt sie die beiden plötzlich: Ein paar Polizisten mit jüdischen Armbinden heben zuerst Abram, dann auch Leon auf einen bereits überfüllten Wagen. Die Gesichter der Kinder sind aufgelöst vor Weinen. Es gelingt ihr, einen Arm freizumachen, um ihnen zu signalisieren, dass sie zumindest in der Nähe ist. Zugleich erhält sie einen harten Schlag in den Rücken. Einer der deutschen Posten treibt sie mit dem Gewehrkolben brutal vorwärts und schreit ihr unter seinem blanken Helm zu –
Vorwärts, vorwärts, nicht stehen bleiben
–, und ehe sie sich’s versieht, haben die beiden Polizisten auch sie um den Leib gepackt, und jetzt steht sie selbst auf einer der Ladeflächen. Als der Wagen plötzlich anfährt, wird sie mit dem Kopf voran hilflos in das Gewühl von Kindern und harten Rucksäcken geworfen.
Während ihrer dreißig Jahre als Kinderschwester hat sie nie gelernt, wie man sich in einer solchen Situation verhält. Für das, was nun geschieht, gibt es keine Worte, keine Instruktionen. Lastwagenmotoren rattern und dröhnen
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