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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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soeben in dem
Zimmer
gewesen waren, und dann war er wie ausgewechselt. Er fegte alle Platten und Teller vom Tisch und schrie, dass Staszek
EINE SCHANDE FÜR DAS GANZE HAUS
sei und dass er Sauberkeit lernen müsse, keinen solchen Saustall hinterlassen könne, und oft endete es damit, dass er Regina oder Frau Koszmar hinzurief, damit sie Ordnung machten und es wieder
ANSTÄNDIG
aussah.
    Das Schlimmste war, dass man nie wissen konnte, wer der Herr Präses von einem Moment zum anderen war. Oder besser gesagt: in welcher Gestalt er sich offenbaren würde.
    Was Staszek wunderte, war nicht, wie sich unterschiedliche Teile des Ältestenkörpers zu ein und derselben Gestalt zusammensetzten, sondern was in der Zwischenzeit mit den anderen Teilen geschah. Wo blieb beispielsweise
der fröhliche, ausgelassene Präses
, der sich auf die Schenkel klatschte und laut, mit einem schrillen Ton wie ein mechanisches Spielzeug lachte? Und was geschah unterdessen mit
dem bekümmerten Präses
, der zu Staszek wie zu einem kleinen Erwachsenen sprach, vom Krieg und
den Angelegenheiten des Gettos
? Oder dem
listigen Präses
, dem mit den schrägen, kalt berechnenden Raubtieraugen? Und wo blieben
die Hände
? Die Hände, die aktivsten Teile des Präseskörpers, die sich gänzlich aus eigenen Stücken bewegten, obgleich Staszek mit starrem Rücken |299| dasaß, den Kopf zwischen die Schultern gezogen, um ihnen zu entkommen. Stets fanden die Hände dennoch hinein. Der Präses lächelte mit schwarzen Zähnen, sein Blick war stier, und Staszek wagte nichts zu tun, aus Angst, dass
der wütende Präses
ihn dann vom Sofa riss und mit der Hand auf Kopf und Schultern einprügelte, bis ihm schwindlig wurde und er sich übergeben musste, um anschließend wie ein Tier in seinem eigenen Erbrochenen zu sitzen, das grau und farblos war wie der Taubendreck, der sich vor der Außenseite des Hoffensters türmte.
    Du kleines widerliches Schwein
, sagte der Präses und lächelte sein innigstes Lächeln.
    Am Ende kam Staszek auf eine andere Strategie. Er bemühte sich, die Hand einzufangen,
bevor
sie schlug; fing sie auf und hielt sie wie einen zuckenden Frosch auf seinem Schoß. Dann führte er sie liebevoll zu seinem Gesicht hoch und strich sich deren rauhe Knöchel über Hals und Wange und Kinn. Der Präses schien zunächst fast ratlos über diesen Ausbruch hündischer Ergebenheit, und falls die Hand zuvor schlagbereit gewesen war, kam sie nun aus dem Konzept.
    Wie auch der Präses selbst: der nun den tränennassen Kopf seines Sohnes in den Händen hielt wie einen Gegenstand, mit dem er auf einmal nichts mehr anzufangen wusste.
    Eine Methode, die funktionierte.

 
    |300| Die Türen zu meinen Räumen stehen immer offen, pflegte der Älteste zu sagen.
    Ich lebe ein ganz gewöhnliches Leben. Im Grunde meines Herzens bin ich ein normaler, einfacher Jude.
    Ich habe nichts zu verbergen.
     
    In den Räumen des Ältesten standen vollbeladene Teller gedeckt, neben- und übereinander in mehreren Etagen, darauf dreieckig geschnittene Butterbrote mit Räucherfleisch und Sahnemeerrettich in so üppigen Portionen, dass einem die Augen tränten; und Kuchen,
echter
Kuchen, gebacken mit
echtem
Mehl und Zucker und Eiern. An den Tischkanten standen Weinflaschen in Reih und Glied mit Gießtülle und schön geknoteten weißen Servietten um den Hals.
    Es waren stets dieselben Leute, die sich um die Tische scharten. Ressort- und Verwaltungsdirektoren, die Leiter aller Büros und Sekretariate des Judenältesten; Fräulein Fuchs und Herr Cygielman und Fräulein Rebeka Wołk. Auch Uniformmützen mit verschiedenartigen »Bändern« gab es hier. In der Menge sah er die Mützen Rozenblats und anderer Polizisten mit rotem Band, und Kommissar Kaufman von der Feuerwehr hatte ein blaues und der Leiter der Post ein grünes. Und Prinzessin Helenas ausgelassenes Lachen hing wie eine glitzernde Girlande über dem gleichmäßig grauen männlichen Geräuschteppich. Schnaufen und Ächzen über Gläsern und Tellern, die auf dem Tisch bereitgestanden hatten. Für Staszek, der mit Gertlers und Jakubowiczs Kindern weit hinten im Raum bleiben sollte, war es, als wohne er einem Schauspiel bei. Der Heerführer in der Mitte, lauttönend und blaurot vor Alkohol und Rührung; und um ihn herum der Hof eingeladener Amtsträger, die nicht wirklich redeten, nur Floskeln von sich gaben. Wortkaskaden in großem Stil oder kleine, schmale, spitze Wörter, die in der Luft hängen |301| blieben, wie Münzen zu Boden

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