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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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Marionette manövriert, mit dem Unterschied, dass es direkt auf den Schultern auflag und die Fäden herabhingen, belastet mit Hunderten Fläschchen, Gläschen und Röhrchen. Es war der Flaschenjunge. Das aber konnte er dem Präses ja nicht sagen. Und ebenso wenig konnte er ihm erzählen, was der Flaschenjunge gesagt hatte: dass auch er ein Sohn des Präses sei. Einen Moment lang spielte er mit dem Gedanken zu erklären, es sei
der andere Staszek
, zuletzt aber sagte er nur, er habe seine eigene Schneiderpuppe zeichnen wollen. Der Älteste durchschaute die Lüge natürlich sofort:
    Du frecher Taugenichts
, sagte er nur und trieb ihn in das andere Zimmer, kümmerte sich nicht einmal darum, die Tür hinter sich zu schließen, zog den Leibriemen aus der Hose und schlug schon zu, noch bevor sich Staszek über die Sessellehne beugen konnte.
    Und der Älteste schlug und schlug, wie er es immer tat; und Staszek schrie und wehrte sich. Nach einer Weile griff er auch nach der strafenden Präseshand und strich mit ihr über sein tränennasses Gesicht, denn er wusste, dass der Präses es so wollte. Weil dessen Leibriemen die Hosen nicht mehr an Ort und Stelle hielt, waren sie herabgeglitten, und Staszek sah das Glied des Ältesten in den Unterhosen erigieren, und als der Präses die Hand des Jungen dorthin führte, hob er stattdessen den schwellenden roten Peniskopf zu seinem Gesicht und fuhr mit der Hand daran auf und ab, wie der Präses es ihn gelehrt hatte.
    Als er sich umdrehte, bemerkte er, dass Frau Regina in der halboffenen Tür stand und sie ansah. In dem braunen, trüben Licht vom Hofschacht wirkte ihr Gesicht bleich und aufgequollen, und es ließen sich keine Gesichtszüge erkennen. Doch sagte sie nichts (stand nur da und fuhr sich mit der Hand seitlich über die Wange, als säße dort etwas, das klebte oder juckte und sich einfach nicht wegreiben ließ). Im nächsten Augenblick war sie verschwunden.

 
    |318| Eine ganze Woche blieb er eingesperrt und festgebunden in dem Zimmer, das wie ein gigantisches Ersticken war.
    Nachts fielen die Vögel vom Hof herab und schleiften ihre trockenen ausgebreiteten Flügel über sein Gesicht. Morgens kam Frau Regina herein, um nachzusehen, ob seine Arme und Beine noch immer festgezurrt waren. Er bat und schrie, er habe den Mund voller Blut und Federn, sie aber hörte nicht, beugte sich nur kurz über ihn und sagte, das alles geschehe zu seinem Besten. Dann ging sie und schloss ab, und nur die entsetzlichen Vögel blieben zurück, deren Schatten wie Insekten über die bleigrauen Wände krochen.
    Erst gegen Abend war das Licht im Hofschacht so weit erloschen, dass der Widerschein des Brandes in der Kleinmöbelfabrik das Zimmer erneut aus seinen erstickenden Schatten treten ließ. Dann brachte Frau Koszmar auf einem Tablett Essen herein, ließ sich mit viel Ach und Oje über
den Zustand des jungen Herrn
aus und löste die Verschnürung an seinen Hände ein wenig, damit er zumindest etwas zu sich nehmen konnte.
    Es war ein »heimtückischer« Brand gewesen, hieß es später.
    Den beiden Polizisten, die in jener Nacht Feuerwache hatten, war nichts aufgefallen, obgleich sie mehrmals an dem zu diesem Zeitpunkt schon völlig vom Brand erfassten ehemaligen Spital vorbeigegangen waren. Erst gegen Morgen hatte einer von ihnen Verdacht geschöpft. Im Park lag eine dünne verharschte Schneeschicht; auch die Holzstapel vor dem Eingang waren mit Schnee überzogen. Die Polizisten hatten beobachtet, wie der Schneefilm auf den Holzstößen immer weiter zurückwich und Schmelzwasser tropfte und rann, so als »hätte sich mitten im eiskalten Winter der Frühling eingestellt«. Erst da hatten sie nach oben geschaut und den Rauch gesehen, der in »reichlicher Menge« aus den Ritzen der nunmehr zugemauerten Spitalfenster stieg. Einem der |319| Polizisten gelang es eine Axt aufzutreiben, mit der sie das Schloss und die beiden Eisenstangen entzweischlugen, die das Tor versperrten, und wie aus eigener Kraft wurden die Torflügel aufgestoßen, und das befreite Flammenmeer warf sich über sie.
    Vierundzwanzig Stunden lang wütete der Brand in der Fabrik. Unterdessen kamen unablässig Leute in die Wohnung des Judenältesten gerannt, erstatteten Bericht und empfingen neue Direktiven.
    Staszek lag mit dem Ohr an der Wand und hörte zu, wie Feuerwehrkommandant Kaufman seinen eigenen Leuten Befehle erteilte. Kaufman telefonierte auch mit seinen »polnischen« Kollegen in Litzmannstadt. Ihnen berichtete er, dass

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