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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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willen«, sagte sie. Hätte der Name des Bruders früher einen Hagel von Flüchen im Zimmer ausgelöst, blieb es nunmehr absolut still.
Ist unser Präses überhaupt noch dort drinnen?
, fragte Helena Rumkowska mit gespielter Naivität. Józef Rumkowski schlug vor, ganz einfach die Tür aufzubrechen. Dem aber widersprachen alle. Herr Abramowicz sagte, man müsse Zurückhaltung üben. Der Herr Präses habe sich lediglich zurückgezogen, um in dieser entscheidenden Stunde seine Gedanken zu sammeln. Er würde zur rechten Zeit erscheinen.
    Am Ende fand sich auch Gertler ein, wie immer proper gekleidet, in Anzug und Schlips, doch mit Flecken im Gesicht und auf den Handrücken (war es Blut oder Schmutz?), und seine Sachen strömten einen strengen, ein wenig stickigen Geruch aus wie von Chemikalien oder verbranntem Öl.
    Er traf ein, begleitet von Shlomo Frysk, dem für die Marysiner Freiwillige Feuerwehr Verantwortlichen, und vom Kommandanten des Ordnungsdienstes des IV. Bezirks, Herrn Isajah Dawidowicz. Ihnen folgten zwei Polizisten mit einer großen, in ein weißes Leinentuch gehüllten Servierplatte, und mit dieser Servierplatte zwischen sich stolperten alle fünf die Treppe zur Tür des Präses hinauf, und Herr Gertler klopfte an und gab der geschlossenen Tür feierlich bekannt:
     
    Du glaubst nicht, was du für ein Glück hast, Chaim, meine Frau hat für dich gerade ein Blech frischer Backäpfel aus dem Ofen gezogen – bestreut mit Zucker und Zimt! –
     
    Dann gingen sie in die Küche hinunter und setzten sich, um selbst zu essen. Unter Gertlers Männern herrschte überhaupt eine seltsame Stimmung. Sie lärmten und lachten ununterbrochen, wie um einander nicht ansehen oder miteinander reden zu müssen. Sobald Gertler aber auch nur die kleinste Bewegung machte, verstummten sie alle wie auf einen Schlag und drehten sich zu ihm um, als erwarteten sie präzise Befehle.
    Gertler selbst schien die Sache mit äußerster Ruhe zu nehmen. Er wiederholte die Versicherung der Behörden, dass die Aktion ausschließlich |346| dem Zweck diene, das Getto von arbeitsunfähigen Elementen zu säubern. Niemand, der seine Papiere in Ordnung habe, müsse etwas befürchten.
    Aber mein Bruder …!
, wandte Regina ein.
    Auch andere wollten wissen, was mit ihren Angehörigen geschehen war, die sie notgedrungen drinnen im Getto hatten zurücklassen müssen. Da erbat sich Gertler mit einer gebieterischen Handbewegung Ruhe am Tisch. Die Behörden, sagte er, würden natürlich als Erste bedauern, dass es zu Gewalttätigkeiten gekommen sei. Diese Vorfälle seien ausschließlich der Tatsache geschuldet, dass es unseren eigenen Polizeikräften nicht rechtzeitig gelungen sei, den erhaltenen Auftrag auszuführen.
    »Was wir in dieser Stunde gebraucht hätten, ist jemand, der die
Situation
fest und resolut in den
Griff
bekommen hätte; eine Art
Präsesnatur
«, fügte er mit einem äußerst flüchtigen Lächeln hinzu. Solange es dem Präses aber nicht beliebe zur Stelle zu sein und seine Verantwortung zu übernehmen, habe er selbst, zusammen mit den Herren Jakubowicz und Warszawski, ein provisorisches »Notkomitee« gebildet, das Mittel einsammele, um
den harten Kern der Intellektuellen
freizukaufen, die man für den Fortbestand des Gettos als unentbehrlich ansehe, die selbst jedoch möglicherweise nicht im Besitz der erforderlichen Zahlungsmittel seien. Dem Komitee sei es auch gelungen, mit stiller Unterstützung von Biebow und Fuchs, ein geschütztes Gelände vorzubereiten, das sie
Einfriedung
nannten, wohin die von der Amnestie betroffenen Männer und Frauen in Sicherheit gebracht wurden. »Und das galt selbstverständlich auch für deren Alte und Kinder«, fügte er hinzu.
    »Wo liegt denn diese Einfriedung?«, fragte jemand.
    »Direkt gegenüber dem Krankenhaus an der Łagiewnicka.«
    »Ist es wahr, was erzählt wird, dass alle Krankenhäuser geräumt wurden?«
    Darauf aber gab Gertler keine Antwort. Er legte seine blutbesudelten Hände auf den Tisch und erhob sich langsam.
Ich bestehe darauf, meinen Vater zu treffen; und meinen Bruder Benjamin
, sagte Regina.
Ich weiß, dass sie noch dort unten sind.
    »Du kannst mit mir mitfahren«, erwiderte Gertler lediglich.
     
    |347| Es stellte sich heraus, dass er bereits ein Beförderungsmittel aus Litzmannstadt organisiert hatte. Vor der Tür stand eine Art Warentransporter mit hohen weißen Kotflügeln, ein Vorderrad im Graben. Der Fahrer trug wie jeder x-beliebige Dienstmann eine Mütze mit blankem

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