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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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Kopf, um zu sehen. Erst in dieser Woche habe ihn Biebows rechte Hand, dieser Grünschnabel Schwind, aufgesucht, um Erkundungen über die beiden Ingenieure Dawidowicz und Wertheim einzuholen, die mit einem derart geglückten Resultat die Röntgenausrüstung des Gettos repariert hatten. In Hamburg bestehe im Augenblick
dringender
Bedarf an tüchtigen Röntgentechnikern, habe Schwind mitgeteilt, und vielleicht sei es ja sogar möglich, eine Fahrkarte zu besorgen. »Nach Hamburg?«, hatte Regina gefragt. Und Gertler: »Nicht einmal ein
Herrenvolk
kann
alles
beherrschen; und um sich das erforderliche Wissen zu beschaffen, ist wohl auch der eine oder andere Nazi bereit, bestimmte Regeln außer Acht zu lassen.« – »Es gibt eine
Liste
«, vertraute er ihr bei späterer Gelegenheit an, »eine
inoffizielle
Liste, die bei den Behörden in Litzmannstadt zirkuliert, mit den Namen
äußerst weniger
Juden, die das deutsche Verwaltungspersonal für
absolut unentbehrlich
hält. Doch um auf diese Liste zu gelangen, muß man den Behörden erst klarmachen, dass man
entgegenkommend
ist, dass man jederzeit
zur Verfügung
steht.« Und: »Steht Chaim auf dieser Liste?«, konnte sie nicht umhin zu fragen, nur um zu sehen, wie er mit einem bedauernden Lächeln den Kopf schüttelte: »Nein, leider. Chaim steht nicht auf der Liste, ehrlich gesagt hält man ihn für etwas zu
simpel
, obendrein ist er viel zu sehr ans Getto |343| gebunden.« Hingegen könne man sich sehr wohl vorstellen, dass andere Personen, beispielsweise Personen wie sie, auf die Liste kommen könnten, wenn nur die Voraussetzungen stimmten; Frau Regina war schließlich im Unterschied zu manchen anderen – das sei ihm klar geworden – eine Frau von einigem Rang und Format.
    Erst viel später sollte sie begreifen, dass es der
Teufel
war, der auf diese Weise zu ihr sprach. Während das restliche Getto nach Fäkalien und Unrat stank, war der Teufel gutgekleidet und verströmte einen angenehmen Duft. Sie vertraute ihm an, dass nicht die sie umgebenden Mauern das Getto für sie waren, nicht der Draht war das Getto, nicht das Ausgangsverbot, der Hunger oder die Krankheiten waren das Getto, sondern etwas, das in ihr steckte wie eine Gräte im Hals: Es war ein langsames Ersticken; und dass sie aus dem, was ihr alle Luft nahm, herausmusste, sonst würde sie nicht mehr leben können. Und der Teufel beugte sich vor und nahm ihre Hand in die seine und sagte:
    »Sei unbesorgt und habe Geduld, Regina.
    Gelingt es nicht auf andere Weise, dann kaufe ich dich frei.«

 
    |344| Im September 1942 verkündeten dann die Behörden das Ausgangsverbot rund um die Uhr,
di geschpere
oder einfach
di schpere
, wie es genannt werden sollte. Das Ausgangsverbot währte sieben Tage, und in dieser Zeit wurde die oberste Schicht der herrschenden Getto-Elite angewiesen, in ihren Sommerwohnungen zu verbleiben und sich unter keinen Umständen weiter hinein ins Getto zu begeben.
    Aus dem Küchenfenster unter den nun abgestorbenen Fliederrispen an der Karola Miarki konnte Regina sehen, wie deutsche Armeefahrzeuge in langen Reihen vom Bahnhof Radogoszcz angefahren kamen. Auf den Ladeflächen saßen schwerbewaffnete Soldaten, die Gewehrläufe zwischen den Beinen, mit gelangweilten Gesichtern unter ihren Helmen oder einfach nur blond und kindlich grinsend.
    Die Schupo hatte eine Straßensperre an der Einfahrt zur Miarki errichtet. Ob sie damit die hier oben Eingesperrten am Hinauskommen hindern oder denen dort unten das Heraufkommen verwehren wollte, begriff sie nicht richtig. Ab und an vernahm man intensives Gewehrfeuer von dem großen, offenen Feld jenseits der Próżna. Die ganze Zeit über kamen neue Konvois mit Einsatztrupps die Straße heruntergefahren. Die Kinder aber, über die so viel geredet wurde, bekam sie nicht zu Gesicht.
     
    Die darauffolgenden Tage waren chaotisch.
    Alle wollten den Ältesten sprechen, der Älteste aber hatte sich für unpässlich erklärt, hatte sich im Schlafzimmer im Obergeschoss eingeschlossen und war nicht bereit, jemanden zu empfangen.
    Man hämmerte gegen die Tür. Man rief durchs Schlüsselloch. Fräulein Dora Fuchs sank vor der Schwelle sogar auf ihre nackten Knie und zählte mit lauter Stimme die Namen all der verzweifelten Menschen auf, die nach ihm gefragt hatten. »Es geht um Leben und Tod, das Überleben |345| des Gettos, Sie können uns doch nicht einfach im Stich lassen!« Auch Regina wurde vorgeschickt. Trotz allem war sie schließlich seine Frau. »Um Benjis

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