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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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Lackschirm, und als er die gelben Davidsterne auf der Brust der beiden bemerkte, flackerte sein Blick.
Beim Wachtposten fragten sie mich, ob ich Volksdeutscher sei, und ich habe ja gesagt, aber eigentlich bin ich Pole
, erklärte er und schielte zu Gertler hinüber, der sagte, er solle aufhören, Blödsinn zu quatschen.
    Noch nie hatte Regina einen Juden so zu einem Polen oder Arier sprechen hören; vermutlich aber war der Fahrer nur ein weiterer dieser Leute, die Gertler »gekauft« hatte.
    Sie setzte sich neben den widerstrebenden Fahrer mit Gertler auf ihrer rechten Seite. Zwei Männer der Sonderabteilung halfen Doktor Eliasberg auf die Ladefläche hinauf. Eliasberg begleitete sie, weil Gertler gesagt hatte, dass es drinnen im eigentlichen Getto großen Bedarf an Ärzten gebe. Dann legte der Fahrer den Gang mit heftigem Ratschen ein und trieb das Auto zurück auf die zerfahrene Straße.
    Seit Inkrafttreten des Ausgangsverbots war sie nicht mehr im Inneren des Gettos gewesen. Damals hatte auf allen Straßen hoffnungsloses Gedränge geherrscht, weil die Leute versucht hatten, sich Nahrungsmittel zu beschaffen, die mehr als ein paar Tage reichen konnten. Jetzt sah es aus wie in einem Kriegsgebiet. Türen zu Hausdurchgängen und Höfen standen weit offen, und überall auf den blankgewetzten Pflastersteinen lagen Bücher, Gebetsschals, blutige Matratzen und Federböden mit kaputten Sprungfedern. Deutsche Posten konnte sie nicht entdecken; nur Reste von Absperrungen, die man offenbar in größter Hast beiseitegeschoben hatte.
    Erst in der Łagiewnicka wurden sie von einem Schupo-Offizier gestoppt, der beim Herannahen des Wagens einen seiner Posten mit erhobener Hand auf die Fahrbahn treten ließ. Nach einem raschen Blick auf Gertler, dessen Judenstern natürlich ins Auge stach, wandte er sich an den Fahrer und verlangte, die Papiere zu sehen. Der Fahrer, dessen Funktion erst jetzt klar wurde, reichte nervös ein Blatt nach dem anderen durch die heruntergekurbelte Scheibe. Der Gendarm trat einen |348| Schritt zur Seite, um die Dokumente zu studieren, kehrte dann zurück und stellte Gertler eine Frage, auf die dieser in überraschend autoritativem Deutsch sofort eine Antwort herunterratterte:
    Der Passagierschein ist vom Herrn Amtsleiter persönlich unterschrieben.
    »Mit Gottes Hilfe wirst du sehen, dass es uns gelungen ist, die meisten zu retten«, sagte er auf Jiddisch zu Regina, während der Fahrer die Papiere von dem Schutzmann zurückerhielt, der unbegreiflicherweise salutierte, bevor er sie vorbeiließ.
     
    Langsam fuhren sie bis zu dem Gebiet, das Gertler
optgesamt
nannte; die Einfriedung. Das Gelände bestand aus einem abgesperrten Hof, der von Mietskasernen umgeben war, einige derart heruntergekommen, dass Teile der Wände in Trümmern lagen; dort, wo keine Laken oder Decken zum Schutz gegen Hitze und Fliegen hingen, konnte man direkt in die überfüllten Wohnungen schauen, das Ganze glich einem Bienenstock. An dem hohen Bretterzaun, der zur Straße hin errichtet war, strichen die ehemaligen
Funktionsträger
des Gettos umher: Verwaltungspersonal von der Sozialabteilung und vom Arbeitsamt;
kierownicy;
Amtsträger von Polizei und Feuerwehr samt ihren Ehefrauen und Kindern: Seltsam gedämpft und still drängten sie sich nun an den Toren, die Blicke auf die Verwüstungen draußen gerichtet.
    Direkt gegenüber lag das Krankenhaus – oder das, was zuvor das Krankenhaus
gewesen
war –, in dem die Plünderungen vor den Augen der eingesperrten jüdischen Funktionäre noch immer andauerten.
    Alles, was sich wegschleppen ließ – Infusionsgeräteständer, Untersuchungstische, Arbeitsplatten, Medizinschränke – wurde von Uniformierten durch die Eingangstüren getragen; ihr sichtlich betrunkener Anführer rannte umher, wies hierhin und dahin und erteilte Befehle. Einige der hohen wannenförmigen Wagen, die die Weiße Garde zum Transport von Mehl und Kartoffeln benutzt hatte, standen vor der Tür, und mit Hilfe jener, die vom Krankenhauspersonal noch übrig waren, wuchtete eine Kompanie eigens dazu herangezogener jüdischer Schwerarbeiter die Möbel auf die Ladeflächen.
Vorsicht, Vorsicht …!
, schrie einer der Feldgrauen, der die Arbeit zu leiten versuchte, doch selbst alles |349| andere als vorsichtig war, als er zwischen all dem zersplitterten Glas umherschwankte.
    Derselbe ölig stickige Gestank, der Regina zuvor aus Gertlers Kleidern entgegengeweht war, lag hier deutlich in der Luft, ein Geruch nach Verbranntem:

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