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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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wie nach Chemikalien, die erhitzt worden und verdunstet waren. Vielleicht kam der Gestank von gegenüber aus dem geplünderten Krankenhaus, oder irgendetwas befand sich in dem Feuer, das in einer Grube neben einem der Kellereingänge der Einfriedung entfacht worden war. Um den Rauch – der als schwarzer Qualm zu einem unbarmherzig blauen, nahezu farblosen Himmel aufstieg – strichen ausgehungerte, beschäftigungslose Kinder, Jungen in Jackett und Kniehosen sowie Mädchen in einst gewiss untadelig weißen Kleidern mit Schnürmiedern und Propellerschleifen im Haar. Wo Platz war, hatten sich allenthalben Berge und Türme von Koffern und Taschen angesammelt, und im Schatten dieser gewaltigen Gepäckberge saßen oder lagen ganze Gruppen von Erwachsenen. Auch ihr Vater saß oder lag geradezu in einem alten Klappstuhl, das Gesicht dem fortziehenden schwarzen Rauch zugewandt. Aus Barmherzigkeit hatte ihm jemand ein Taschentuch um den Kopf geknotet, um seinen kahlen Schädel vor der Sonne zu schützen. Sein Gesicht war indes bereits verbrannt, und die eine Hand – die mit der Handfläche nach oben auf der Armlehne des Stuhles lag – war zur doppelten Größe angeschwollen.
    Der Arm musste eingeklemmt worden sein, erzählte der Vater, oder vielleicht war jemand draufgetreten, als sie an jenem Morgen auf die Wagen verladen wurden, er erinnerte sich nicht. Nur, dass plötzlich ein halbes Dutzend deutscher Uniformierter mit Geschrei in den Saal gestürmt war. Es war im Morgengrauen gewesen, lange bevor die Schwestern zum Leeren der Becken erschienen waren. Etliche hatten versucht zu fliehen – diejenigen, die noch allein gehen konnten –, aber die Deutschen oder jüdische
polizajten
, die als Wache in jedem Korridor postiert standen, hatten sich sofort um sie gekümmert. Dann waren alle, die noch in den Sälen verblieben waren, egal, ob sie gehen und auf eigenen Beinen stehen konnten oder nicht, durch den Eingang hinausgetrieben und auf die hohen Anhänger geschleudert worden.
    An mehr erinnerte er sich nicht. Nur dass Chaim schließlich aufgetaucht |350| war. Es war ein Moment der Erleichterung gewesen, als Aron Wajnberger endlich seinen Schwiegersohn erblickte.
Chaim, Chaim …!
, hatte er ihm von der hohen Ladefläche aus zugerufen.
    Chaim Rumkowski aber hatte nichts gesehen oder nichts gehört. Nachdem er eine Weile mit einem der SS-Leute vor Ort verhandelt hatte, hatte er sich einfach umgedreht und war im Krankenhausgebäude verschwunden.
    Und Benji?
Regina fasste ihren Vater bei den Schultern, schüttelte ihn fast.
    Doch Aron Wajnberger hatte unter seiner weißen Kopfbedeckung noch immer nur seinen Schwiegersohn vor Augen:
Es war, als wären wir für Chaim plötzlich völlig Fremde. Als sähe er uns nicht mehr. Kannst du dir das erklären, Regina? Wie ist es nur möglich, dass er mit einem Mal einfach aufgehört hat, uns zu sehen …?
    Die ganze Zeit über war Gertler beim Schlagbaum stehen geblieben, der die Einfahrt zur Einfriedung absperrte, wo er mit den jüdischen Posten scherzte, nun aber näherten sich zwei Beamte der deutschen Gettoverwaltung in Zivil, und Gertler sah sich erneut gezwungen, »beiseitezugehen« und zu verhandeln. Während Gertler mit den Deutschen redete, griff Regina ihrem Vater unter die Arme, um ihn auf die Beine zu stellen. Sie bat den Fahrer um Hilfe, weil der Vater nicht allein gehen konnte, der aber wich nur ängstlich zurück. Er wagte nichts zu tun, solange die Deutschen noch in der Nähe waren.
    Dann kam Gertler zurück. Als sie wieder im Auto saßen, fragte sie ihn, ob sie bis zum Krankenhaus in der Wesoła weiterfahren könnten. Gertler schüttelte nur den Kopf; es war unmöglich. Alles dort im Umkreis war abgesperrt.
    Aber Benji
, flehte sie.
    Er sagte, er werde Erkundungen einziehen. Bestimmt wisse jemand, wo man ihn hingebracht habe. Er wolle wirklich sein Bestes tun.
    Als sie wieder in die Karola Miarki einbogen, sah sie, dass die Leiter, die Herr Tausendgeld an die Wand gestellt hatte, um durchs Fenster zu Chaim hineinzuschauen, nun fortgenommen war; Herr Tausendgeld selbst war in Józefs und Helenas
działka
zurückgekehrt, stand mitten im Vogelhaus und um seinen ausgestreckten Arm kreisten Hunderte |351| geflügelter Wesen. Und plötzlich sah sie, wie klein und bedeutungslos die Welt war, die sie hier draußen in Marysin bevölkerten: eine Puppenstubenwelt am Rand des Abgrunds. Chaim war aus seiner selbstauferlegten Isolation heruntergekommen und saß am Küchentisch, beide

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