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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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in Stenografie und Maschineschreiben habe belegen können. Er wollte wissen, welche Sprachen sie spreche, und sie erwiderte, dass sie sich leidlich auf Englisch und Französisch auszudrücken vermöge, bedauerlicherweise aber kein Jiddisch oder Hebräisch beherrsche; da sagte er, er würde ihr helfen, nahm sein Buch und las ein paar Gebete zunächst auf Hebräisch, dann auf Polnisch und erklärte zugleich, was er da gelesen hatte. Im Laufe der Tage lasen sie mehrere Gebete zusammen. Er las ihr den Text vor, und dann las sie. Danach beklagte er sich laut und heftig über ihr Unwissen.
Es ist, als würdet ihr jungen Menschen
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einen Raum betreten und euch beschweren, es sei allenthalben so dunkel, dass man nichts sieht, und doch durchdringt das Licht jede Ecke und jeden Winkel.
    Da jedoch hatte er sie bereits mehrere Worte der neuen Sprache gelehrt. Er hatte sie gelehrt, wie die Silben aussahen und wie sie ausgesprochen wurden, wie man sie zusammensetzte und wieder auseinandernahm, um neue Inhalte zu formen. Drei einfache klingende Silben genügten, um eine ganze Welt von Wörtern zu bilden. Eins der vielen hebräischen Worte, die er sie lehrte, war
panim.
Dieses ursprünglich für
Gesicht
stehende Wort konnte, je nachdem, wie man es auseinandernahm oder zusammensetzte, sowohl bedeuten, vor den Allmächtigen
gestellt zu werden
, als auch sich ihm
auszusetzen
oder
von seinem Licht durchdrungen
zu sein:
     
    Dann verstehen Sie vielleicht, Fräulein Schulz, dass der Akt des Betens nicht darin besteht, Wörter aus einem Buch herunterzurasseln, sondern sein Gesicht dem Herrn zuzuwenden, damit er jedes seiner heiligen Worte von innen her zu erleuchten vermag …
     
    Einmal, als sie gemeinsam gelesen hatten, griff er nach ihrer Hand und fragte sie, ob sie ihm helfen könne, wenn die Zeit gekommen sei. In ihrer Einfalt glaubte sie, er wolle, dass sie ihm helfen solle zu sterben. Doch als sie eine dahingehende Andeutung machte, schüttelte er nur energisch seinen kahlen Kopf. Was er wollte, war etwas bedeutend Konkreteres. Er sagte, es würde ein Brief unter ihrem Namen eintreffen. Und wenn der Brief schließlich gekommen sei: Würde
Fräulein Schulz
ihm dann den Gefallen tun, das darin enthaltene Angebot zumindest gründlich in Erwägung zu ziehen?
    *
    Im Mai 1940, als das Getto errichtet wurde, gab es in der jüdischen Gettoverwaltung im Höchstfall einige hundert Angestellte. Drei Jahre später, im Juni 1943, verdienten mehr als 13   000 Gettoinsassen ihren Lebensunterhalt in einer von all den Kanzleien, Abteilungen und Unterabteilungen, |373| in den Arbeitsämtern, Kontrollkammern und Inspektionseinheiten, über die Rumkowski gebot.
    Da Rumkowskis Verwaltungsapparat im Laufe von drei Jahren derart verwirrend groß geworden war, sprach man nur noch von
den Kanzleien.
    Oder
den Kanzleien des Ältesten
.
    Oder
dem Palast
.
    Dieser war daher ein Palast ohne sichtbare Türme oder Brüstungen, aber mit vielen unterirdischen Gängen, in denen Leute saßen und Berechnungen vornahmen, ohne zu wissen, was sie da berechneten oder weshalb sie nachts schlafend hinter ihren Aufsichtsschaltern saßen. Der Palast war ein Bauwerk auf unsicherem Grund, seine Ausbreitung stand ständig in Frage. Büros und Kanzleien tauchten unversehens in normalen Mietshäusern auf und wurden wieder geräumt, als hätte es sie nie gegeben. Doch der Palast hatte ein unübersehbares Eingangstor. Dieses Tor lag vor dem Sekretariat des Ältesten am Bałucki Rynek. Dorthin hatte sich ein jeder zu begeben, der in die Hierarchie des Gettos zu gelangen wünschte oder in ihr weiter nach oben zu kommen trachtete.
    Diejenigen, die eine Freistatt unter dem Schutz des Judenältesten suchten, nannte man
Petenten
, und seit der Errichtung des Gettos hatte der Präses Tausende solcher Petenten empfangen.
    Anfangs hatten die Bittsteller vor dem Bałuter Büro spezielle Einlassscheine erhalten, die ihnen einen kurzzeitigen Aufenthalt in der von den Deutschen abgesperrten Zone erlaubten. Nach der
szpera
-Aktion hatte Biebow jedoch beschlossen, dass nun mit
dem Gerenne Schluss sein musste
, und verbot allen, die keine Anstellung in der Verwaltung hatten, sich auf arischem Territorium aufzuhalten. Was den Ältesten jedoch keineswegs hinderte, auch weiterhin Petenten zu empfangen. In der Łagiewnicka wurde zu diesem Zweck ein Wärterhäuschen in Betrieb genommen. Man bugsierte einen Schreibtisch hinein, hinter dem der Älteste Platz nahm, vor sich sämtliche Personalakten

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