Die Elenden von Lódz
Schulz.
Schulz:
Sauber oder nicht! Sie haben mit diesen Händen nichts zu schaffen …!
In diesem Augenblick befahl der Herr Amtsleiter seiner Polizeieskorte, die Versammlung aufzulösen. Mit Schlagstöcken und Gewehrkolben wurden jene, die noch auf eigenen Beinen stehen konnten, auf den Hinterhof geprügelt. Dort durften sie dann liegen bleiben, Beamte, Polizisten und normale einfache Leute wild durcheinander, bis sie wieder zu sich kamen und sich aus eigener Kraft fortbegeben konnten. Auf dem Weg zurück zum Roten Haus hörte man den diensthabenden deutschen Polizeioffizier in seinem Dienstwagen etwas von dreckigen Juden knurren, die nicht mal so viel Verstand besaßen, dass sie das wenige, was man ihnen an Essen gab, auch bei sich behielten.
|370| Doch natürlich gab es nichts zu essen. Sie konnten so tun oder sich selbst vorgaukeln, dass es Lebensmittel für alle gäbe oder dass sie genügend Geld oder Wertgegenstände besäßen, um sich etwas zu kaufen oder einzutauschen, und dass es lediglich darum ginge zu sparen, ein bisschen zu knausern und das eine oder andere ein wenig zu strecken.
Die Tatsache jedoch blieb bestehen: Es gab kein Essen.
Der Schwarzmarktpreis für einen Laib Brot war dreihundert Mark, da sich aber bei der in diesem Winter herrschenden Eiseskälte nicht einmal die Verkäufer vor die Tür wagten, gab es kein Brot zu kaufen. Im untersten Fach der Speisekammer lagen ein paar erfrorene Kartoffeln, mit der verschorften Schale nach oben. Das war alles, was sie hatten. Morgens rührte Věra etwas Kartoffelmehl in lauwarmes Wasser und streute ein paar Roggenflocken darüber. Das war die »Suppe«, mit der sie Maman gefüttert hatten. Wäre es dem Vater nicht geglückt, in der Klinik auf der Mickiewicza nun doch zeitweilig ein Bett für Maman zu beschaffen, hätte kaum jemand von ihnen überlebt. Solange Maman in der Klinik lag, bekam sie zumindest Suppe und Brot gratis, und wenn etwas übrigblieb, erhielt auch Věra eine Schüssel. Zum Dank für das Essen saß sie den ganzen Tag mit der Olympiamaschine auf dem Schoß und half dem Vater beim Schreiben der Krankenblätter und beim Ausfüllen der Karteikarten. Doktor Schulz hatte auf ausdrückliche Anweisung von Rumkowski nicht nur die Verantwortung für die frühere Tuberkuloseklinik übernommen, sondern auch für die ehemaligen Poliklinikgebäude in der Dworska, und Hunderte Patienten befanden sich jetzt dichtgedrängt in den Räumen, die früher im Höchstfall Platz für zehn Betten boten. Sogar im Keller und in den feuchten Waschküchen unter dem Hauptgebäude lagen Patienten, und die Gänge waren vollgestopft mit sogenannten Tagespatienten (obgleich sie Tag und Nacht dort verbrachten), Leute, die nicht als krank genug galten, um ein Bett |371| zu benötigen: Männer mit Blutvergiftung oder chronischem Durchfall; mit Hungerödemen oder akuter Lähmung in den Beinen; oder einfach nur mit Erfrierungen. Věra trug wöchentlich etwa hundert derartige Fälle ein, von denen die meisten eine Amputation erwartete, ob nun notwendig oder nicht, da Professor Schulz der Ansicht war, Sepsis sei ein
bedeutend schlimmeres Übel
, für dessen Behandlung er unter den waltenden Umständen keine ausreichenden Möglichkeiten besaß.
Im Bett neben Maman in Doktor Schulzes Abteilung lag ein älterer Mann, sein Kopf war kahl wie ein Ei, doch hatte er noch immer dichte schwarze Augenbrauen, die sich jedes Mal, wenn er jemanden ins Visier nahm, wie bei einem Tier zusammenzogen.
Die Krankenschwestern nannten ihn Rabbi Einhorn oder einfach
Herr Rabbiner
und bewegten sich mit größter Ehrfurcht um sein Bett. Mehrmals am Tag griff Rabbi Einhorn zu Gebetsschal und Gebetsriemen, die er zusammen mit seinen Büchern in einer kleinen abgewetzten Reisetasche aufbewahrte. Da er seinen Oberkörper vor Schwäche kaum aufrecht halten konnte, musste Věra ihm helfen, die Gebetsriemen um den Arm zu binden und die Lederkapsel auf der Stirn zu befestigen; die Bücher aber wollte er partout allein herausnehmen, und nach dem Gebet wollte er nicht, dass sie oder ein anderer die Bücher anrührte, sondern lag dort im Bett und presste sie an seinen dünnen Brustkorb.
Oft bemerkte sie, dass er sie beobachtete, wenn sie ein Blatt Papier aus der Schreibmaschine nahm oder ein neues einlegte, eine Notiz oder eine Adresse auf dem Krankenblatt tippte.
Er wollte wissen, wo sie diese lobenswerte Emsigkeit erlernt hatte.
Sie antwortete ihm, dass man im Prager Handelsgymnasium auch Kurse
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