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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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Věra Schulz’ Hand in der seinen, so als wäre er in den Besitz eines wertvollen Gegenstandes gelangt, mit dem er jedoch nichts anzufangen wusste. Věra bemerkte die Schweißperlen, die sich am Haaransatz unter der weißen, aus der Stirn gestrichenen Mähne zeigten.
    Aber wie
…, setzte er an, unterbrach sich und begann von Neuem (allem Anschein nach aufrichtig erstaunt):
    Wie können Sie mit einer Hand wie dieser arbeiten?
    Vielleicht beschloss das später so viel erwähnte
Magenleiden
gerade in diesem Moment zuzuschlagen. Jedenfalls berichtete man im Nachhinein von einem
bedauerlichen Zwischenfall
, der sich kurz nach der Eröffnung des Herrlichen Büfetts zugetragen haben soll.
    Über die Ursachen dieses »Zwischenfalls« gab es geteilte Auffassungen:
    Entweder hatten die Fleischereien des Gettos ihre trotz allem begrenzten Fleischressourcen überstrapaziert und sich zur Herstellung der erforderlichen Anzahl Würste des
minderwertigen
Teils der Lieferung bedient, der ansonsten bereits bei der Ankunft in Radogoszcz vergraben wurde. Oder die Extramenge des von der Gettoverwaltung zugesicherten
guten Hackfleisches
hatte sich als genau das gleiche verdorbene Pferdefleisch erwiesen, das die Deutschen stets lieferten und das schon bei der Ankunft meilenweit gegen den Wind stank: grünlich und durch Verwesung dermaßen aufgelöst, das es beim Entladen der Waggons geradezu in die Bottiche schwappte. Diesmal aber hatten die Verantwortlichen der
Fleischverteilungsabteilung
es nicht gewagt, von der minderwertigen |368| Lieferung zu berichten, aus Angst (wie es später hieß), »so die gesamte Veranstaltung zu sabotieren«. Und damit waren die fertigen Würste also auf das Büfett gelangt, fett und kräftig, strotzend von Soda und Gärstoffen in ihrer klebrigen Darmhülle …!
    Oder ob es möglicherweise so gewesen ist – wie die meisten glaubten –, dass bei diesem Fest plötzlich so überraschend große Mengen Schweinefett aufgetischt wurden, dass selbst gutgeschmierte Direktorenbäuche nicht genügend Widerstandskraft aufbrachten; zumal jeder der zu diesem großzügigen Büfett Eingeladenen wusste, ein Ereignis dieses Ranges würde es in der Geschichte des Gettos vermutlich nur dieses einzige Mal geben, und also kam es darauf an zuzugreifen, solange man die Chance dazu hatte, schließlich lag die Wurst ja da, gut, rot und zufrieden glänzend in all ihrem Fett …!
    Bereits um Mitternacht waren die ersten der festlich gekleideten ranghohen Gäste in Richtung Innenhof gewankt, wo sie sich, gegen die rußgeschwärzten Backsteinwände gestützt, mit hochgezogenen Schultern übergaben. Im Foyer irrten ratlose Menschen umher. Andere suchten Schutz hinter dem großen Büfetttisch oder den noch immer an ihrem Platz befindlichen Stühlen und Tischen, während die Küche und der angrenzende Serviergang von Gertlers Leibwächtern besetzt gehalten wurden, die sich ungehemmt in alles erbrachen, was sich an Eimern und Bottichen auftreiben ließ, sogar in jene Töpfe und Servierschüsseln, in denen noch Würste auf ihre Verwendung warteten.
    Nachdem der Älteste mit feuchten Augen sein gesamtes GEFOLGE fallen sah, stakste er in stolzem Reihergang auf den Hof hinaus, wo auch er zu Boden ging. Fräulein Dora Fuchs, die den ganzen Abend mit einem Taschentuch ihre Mundwinkel betupfend umhergelaufen war, wedelte das Tuch nun ohnmächtig durch die Luft und rief nach einem Arzt: So musste Doktor Schulz auch an diesem Jubiläumstag tun, was er an jedem einzelnen Tag seit seiner Ankunft im Getto getan hatte. Er griff nach dem Arztköfferchen, das er stets bei sich trug, bat Věra, sie möge dem Präses einen zusammengerollten Stuhlbezug unter den Nacken schieben, und ging dann auf die Knie, um dem alternden Mann den Puls zu fühlen:
     
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Ältester (matt, den Blick auf den fernen Gettohimmel gerichtet):
Wer sind Sie?
    Schulz:
Schulz.
    Ältester:
Schulz?
    Schulz:
Ja, Schulz. Wir kennen uns.
    Ältester (zu Věra):
Und diese wunderschöne Dame an Ihrer Seite?
    Schulz:
Das ist meine Tochter Věra. Sie haben erst vor ein paar Minuten mit ihr geredet.
    Ältester:
Aber was haben Sie mit Ihren schönen jungen Händen gemacht, junges Fräulein Věra?
    Schulz:
Sie, Herr Präses, haben selbst gesagt, dass sie nicht mehr zur Arbeit taugen.
    Ältester:
Hat man denn so was schon gehört? Alle, die noch im Besitz ihrer Hände sind, sollen natürlich eine Arbeit erhalten, und ich sehe, dass Sie schöne, saubere Hände haben, Fräulein

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