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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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tödliche Kugel auf sie gerichtet wird.
    Sie sind nicht unüberwindlich! Sie werden auch nicht siegen!
    Jetzt, wo sich das Kriegsglück im Osten gewendet hat, wird der Widerstand gegen Frank und seine Besatzungsmacht auch hier in Warschau und in ganz Polen zunehmen. Dank des Widerstands auf den Straßen |391| des Gettos wagte sich nicht ein Einziger der Mörder in die Keller und Tunnel hinunter, wo ihre ausgewählten Opfer sich versteckt hielten. Die Übermenschen wagten es nicht.
Die Übermenschen hatten Angst.
    (J. Nowak)
     
    Das war das letzte Zeitungsexemplar, das sie archivierte – datiert vom 19. Mai 1943.
    Von diesem Moment an ist ihr nichts mehr in Erinnerung.

 
    |392| Im Traum steht sie zusammen mit Aleks in dem Toreingang zum Archiv. In dem selben Toreingang drängen sich Hunderte von Menschen, die ebenfalls darauf warten, dass der Regen endlich aufhört. Noch nie in ihrem Leben hat Věra einen solchen Regen erlebt. Über die blanken Pflastersteine, entlang der Dachfirste und Fassaden, überall strömt und plätschert Wasser. Hin und wieder sendet der Donner dumpfe Stöße durch den Boden, die den ganzen Gettogrund zum Wanken bringen.
    Aleks und sie stehen Seite an Seite, so nahe beieinander, als hätte der Regen sie in ein und denselben warmen Mantel gehüllt. Nach kurzer Zeit hört sie sogar auf, daran zu denken, dass sie überhaupt dort stehen. So warm ist es bei ihm.
    Da hellt es sich auf. Über ihnen öffnet sich ein leuchtend blauer Himmelsstreifen.
    Doch nur über dem Getto. Jenseits des Stacheldrahts und der Absperrung geht das Gewitter weiter, und der Himmel ist schwer und glänzt schwarz vor Regen.
    Durch das bleiche, wässrige Licht kommen farbenprächtige Pfauen geschritten. Am Fuß der Holzbrücke hat ein Baum Wurzeln geschlagen: eine riesige Esche, deren Wurzeln die harten Pflastersteine zersprengt haben, und ihre Äste schlingen sich hoch über das Brückengeländer. Rundum an den Häuserfassaden, die noch immer die Wasserstempel des Regens tragen, schlägt Grün aus, schimmernd wie Schmetterlingsflügel. Gestreifte Markisen werden hochgekurbelt, Fenster ins Freie aufgestoßen. In schattigen Torgewölben und auf den Höfen herrscht buntes Treiben, das zuvor nur im Verborgenen stattfand. Pferde werden angespannt, glänzende Stoffbahnen auf breiten Tischplatten ausgerollt oder vorsichtig ausgebreitet, Teller und Gläser aufgestellt. In Wiewiórkas Frisiersalon sitzen die Kunden mit unrasierten Bärten, die Blicke in |393| eine Richtung gewandt, als lauschten sie alle derselben Stimme. Doch das Einzige, was aus den überall im Getto installierten Lautsprechern erklingt, ist das verstärkte Geräusch des Regens: ein Orkan aus Regen, der in Rinnen und Rohren strömt und fließt.
    Sie geht über das nasse Pflaster, doch sie fühlt, dass sie keinen Körper mehr hat. Oder wurde alles im Getto plötzlich von dem befreit, was es zu Boden drückt? Haustore und Fassaden blättern vorüber, als wären es Seiten aus einem Buch, und genau wie zwischen den blätternden Seiten eines Buches gleitet auch sie vorbei, durch die Torgewölbe auf die weiten Innenhöfe hinaus, wo die Kinder stehen. Ihr fällt auf, dass sie die Gettohöfe noch nie so gesehen hat. Zuvor erschienen ihr die Höfe meist wie tiefe Schächte oder Lücken zwischen den Häusern, sinnlose Hohlräume, angefüllt mit Schlamm, Ziegelscherben und weggeworfenem Unrat. Jetzt stehen Brunnen, Schuppen und die Latrinenreihen deutlich voneinander getrennt; Körper und Schwengel der Pumpe sind gestrichen, die Schuppen mit einem Spalier versehen, und auf die Teerpappedächer der Latrinen, versehen mit einer Holzumrandung, ist Erde aufgebracht, sie sind zu Gartenland geworden, auf dem in langen züchtigen Reihen Gurken und Tomaten wachsen.
    Und dann all die Kinder …
    Sie stehen in losen Haufen, als wären sie durch hohes Gras herbeigewatet und plötzlich stehen geblieben, mit leeren, weißen Augen und Gesichtern bleich wie Blumenstengel.
    Im Getto waren für gewöhnlich keine Kinder. Ältere Männer hockten für gewöhnlich nicht unter ihren Gebetsschals, die Gebetsriemen um die Arme geschlungen und die aufgeschlagenen Gebetbücher dicht an den Augen.
    Und auch Regen gab es für gewöhnlich nicht; und im Regen kein derart tiefes Schweigen.
    Hinter all dem, was sie nun sieht, hinter Kindern, Regen und Schweigen, liegt wie ein heller Schlund: ein endloses Inneres. Und sie erkennt deutlich und klar, ganz ohne Schrecken, dass so das Sterben ist. Man

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