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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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braucht seinen leichten papierenen Körper nur in den unbegreiflich aufklarenden Himmel zu erheben. Und sie denkt, dass sie um jeden Preis gegen diese Versuchung ankämpfen, an dem Widerlichen, Schlimmen |394| und Finsteren festhalten muss, das Erde, Körper, Schwere und Getto ist.
    Doch es ist schon zu weit gegangen.
    Sie findet keinen Halt mehr in sich selbst. Nicht einmal das Licht findet Halt.

 
    |395| Aleks kratzte leere Luft aus einer alten Konservendose, und da der Löffel den ganzen Weg bis zu ihrem Mund nahm, nutzte sie die Gelegenheit, in den Stiel zu beißen. Der Löffel schmeckte nach Metall und Luft. Aleks tunkte einen Brotkanten in ein wenig Suppe und berührte damit ihre wunden Lippen, als wäre das Brot ein Stofffetzen oder ein Schwamm. Zunächst verstand sie nicht, was er hier tat. Offenbar lebte sie jedoch. Sie lag in dem engen Tapetenzimmer in der Brzezińska, auf derselben schmutzigen Matratze, auf der die Mutter gelegen hatte, und über ihr und rund um sie herum befanden sich dieselben Wände, die die Mutter mit ihrem Kot beschmiert hatte, und dicht unter der Decke die vergitterte Lüftungsklappe, die sich mit einer Stange von unten öffnen und schließen ließ. Nun zog Aleks an dieser Stange, damit das Licht nicht zu stark für ihre Augen wurde, doch obwohl alles Helle sie schmerzte, obwohl in ihrem Schlund so etwas wie ein Kloß wunden Schmerzes steckte und sie so schwach war, dass sie kaum die Arme zu heben vermochte, wollte sie, dass das Licht dablieb, und sie saß in dem Licht wie auf dem Grund eines endlosen Brunnens, während Aleks mit dem Löffel immer weiter in der begehrten Konservenbüchse kratzte:
    »Du isst jedenfalls«, sagte er zufrieden.
    Das Merkwürdige war nicht, dass sie überlebt hatte, sondern dass sie andere anscheinend hatte überzeugen können, dass sie selbst beliebig lange klarkam. Als es dem Vater geglückt war, für Maman in der Mickiewicza ein Bett zu beschaffen, hatte Věra sie auf ihrem Rücken all die Treppen aus der Wohnung hinuntergetragen. Somit hatte keiner gesehen, wie dünn und abgehärmt Věras eigener Körper war, und im Krankenhaus war sie unablässig mit verschmutzten Laken und ungeleerten Becken umhergelaufen. So als wollte sie vor ihrer eigenen Erschöpfung davonlaufen.
    Josel sagte, die Krankheit müsse sie sich im Spital zugezogen haben. |396| Das aber wurde von Arnošt mit Bestimmtheit bestritten, der sagte, keinen einzigen neuen Fall von Flecktyphus gehabt zu haben, seit sie in die Mickiewicza gezogen seien –
der Typhus verschwand mit den Läusen
, sagte er – und sah die Ursache stattdessen in ihrer Arbeit mit den Büchern in dem schmutzigen Archivkeller. Er setzte Chloramphenicol ein, das er aus der privaten Apotheke des Herrn Präses besorgt hatte, und zehn Tage später waren Fieber und Muskelkrämpfe langsam zurückgegangen.
    Doch noch immer war sie so schwach, dass sie nicht aufstehen oder den Arm heben oder strecken konnte, ohne dass ihr Körper zitterte. Aleks hatte einen Leiterwagen für sie besorgt, einen wie jenen, in dem Kaiser Franz, der Lumpenhändler von der Franciszkańska, seine Waren durch die Gegend zog, und in dem schleppten Josel und Martin sie mit hinaus nach Marysin.
    Aleks Gliksmans Vater war nicht nur
klajngertner
, wie der Sohn bescheiden erklärt hatte, sondern der höchste verantwortliche Jurist des
landwirtschaftsoptejl
des Gettos, jener Abteilung im Palast, die alles Land im Getto verteilte, das nicht bebaut oder als Ressort oder Materialdepot genutzt wurde. Der Älteste hatte im Spätwinter 1943 beschlossen, allen landwirtschaftlich brauchbaren Boden, der von den früheren Kollektiven bewirtschaftet worden war, in Parzellen zur privaten Nutzung aufzuteilen. Der Gedanke war, somit die »einheimische« Produktion von Obst und Gemüse zu erhöhen; doch obgleich Ehud Gliksman in der entsprechenden Abteilung tätig war und man nun zum ersten Mal seit Jahren neue Parzellen zu vergeben hatte, war es durchaus nicht selbstverständlich, dass er etwas mit der Verteilung des Bodens zu tun bekam. In dem komplizierten, im Palast herrschenden System von Abhängigkeiten und verdienten oder einzufordernden Dankbarkeitsschulden hatte stets einer den Vortritt. Vermutlich aber hatte Aleks darauf gedrungen. Věra meinte, seine beharrlich plädierende Stimme zu hören, mit der er sich für die tschechische Familie Schulz einsetzte; obendrein sei der Vater schließlich auch noch Arzt; und dann eines Tages, als Věra überaus krank im

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