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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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Tapetenzimmer lag – selbst der ewig optimistische Arnošt schien schon die Hoffnung aufgegeben zu haben –, war ein kleines graues Formular von der Landwirtschaftsabteilung des Gettos eingetroffen, das mitteilte, die Familie Schulz sei ausgewählt worden, |397| »einen kleinen Bodenanteil verantwortlich zu bestellen und zu pflegen«. Die Parzelle hatte die offizielle Adresse Marysińska 11:4 (
Parzelle Nr. 14
) und bestand aus fünfzehn Quadratmetern Erde direkt an der Ecke, an der die Marysińska auf die Przelotna traf. Der Mietvertrag galt für ein Jahr, mit einmonatiger Kündigungsfrist.
    Aleks hatte eigene Erfahrungen mit landwirtschaftlicher Arbeit. Die ersten Jahre im Getto gehörte er zum Jugendkollektiv Haschomer hazair, das draußen in Marysin Pionierarbeit im großen Stil betrieb. Die
schomrim
des Gettos hatten Kartoffeln, Rüben und Weißkohl angebaut; auch Mohrrüben und Zuckererbsen. Und nicht nur für
hazana
– die kollektive Verteilung der Lebensmittel –, sondern
für die Zukunft
, um sich
vorzubereiten
, denn zu jener Zeit, so erzählte Aleks, haben alle geglaubt, dass der Krieg trotz allem nur von kurzer Dauer sein würde und sie allesamt bald nach Palästina kämen.
    »Dort hatten wir unsere Versammlungsräume«, sagte er und wies auf ein Steingebäude mit eingestürztem Dach ein Stück die Próżna hinunter. »Dort lagen wir in den Nächten und lauschten den Fledermäusen, unter den Dächern gab es Unmengen von Fledermäusen. Zu der Zeit kam der Präses häufig zu Besuch. Wir deckten eine lange Tafel, und er durfte auf dem Ehrenplatz sitzen. Damals war er ein anderer, nahezu anbiedernd, er aß mit uns zu Abend, und dann hockten wir stundenlang da und sangen Lieder, auch Liebeslieder«, sagte Aleks und begann zu singen (er hatte eine rauhe heisere, nicht sonderlich schöne, aber durchdringende Stimme):
    Im Land Israel muss ich leiden
    Ich liebe und leide,
    Deine Gefühle kenne ich nicht
    Pflücke Blumen für mich selbst
    Lasse mein Herz durch sie gesunden.
10
    |398| »Später erschien der Herr Präses erneut bei uns, aber da war er wie verwandelt:
    Das war im Zusammenhang mit den Streiks in den Tischlerwerkstätten auf der Drukarska und der Urzędnicza, die zu Zusammenrottungen und Hungerkrawallen geführt hatten, so dass er sich gezwungen sah, die Deutschen hereinzurufen, um die Demonstrationen niederzuschlagen. Und der Präses war überzeugt, dass die Agitation gegen ihn in den sozialistischen Kreisen, unter uns
schomrim
und in den anderen Kollektiven, ihren Anfang genommen hatte. Deshalb ordnete er an, alle landwirtschaftlichen Kollektivbetriebe in Marysin zu schließen, und jeder, der sich nicht zum Arbeitsdienst einfand, sollte seine Arbeitskarte verlieren.
    Das war im März 1941. Wir hatten zwei Alternativen. Entweder machten wir bei Praszkiers Begräbniskolonne mit und begruben draußen in der Bracka Tote; oder wir mussten beim Hochziehen des Anbaus am Zentralgefängnis mitmauern. Zu dieser Zeit war Shlomo Hercberg Gefängnischef, und er verhielt sich zu den Arbeitern genauso perfide wie zu den Gefangenen. Keins von beidem war sonderlich verlockend.«
    »Und was ist passiert?«, fragte Věra.
    »Ich hätte mich natürlich zur Wehr setzen sollen. Wie es so mancher tun wollte. Vielleicht wären wir ihn dann losgeworden. Doch niemand machte etwas. Und so viel Grips hatte unser Präses jedenfalls, dass er sich von den Beteuerungen meines Vaters, ich sei unschuldig, umstimmen und mich hier im Archiv anfangen ließ. Ich war bei der Haschomer schließlich Protokollant gewesen, und wenn man es genau bedenkt: So wahnsinnig viele Schreibkundige gibt es im Getto ja wirklich nicht.«
    *
    Es stellte sich heraus, dass die Gartenparzelle Nummer vierzehn ein Stück von der Straße entfernt hinter einer grauen Steinmauer lag. An der Mauer stand ein verfallener Bretterschuppen mit mehr Löchern und Spalten als heilen Wänden. Die gesamte Marysińska flankierten derlei morsche Bauwerke, nur ausnahmsweise mit einem oder ein paar Fenstern je Wand versehen und mit einem gemauerten Schornstein oder |399| einem simplen Ofenrohr, das aus dem Fenster ragte. Einige der Parzellen, die zu diesen Hütten gehörten, waren klein, manche nicht größer als eine Armlänge im Radius; andere waren groß wie Felder und von hohen Zäunen und Gartentoren begrenzt.
    Das ganze Frühjahr über kamen die Geschwister Schulz, sobald sich eine Gelegenheit bot, hier hinaus, jeden Sonntag, aber auch nach der Arbeit, wenn sie noch

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