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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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wegen des Lohns zu Gertlers Sonderabteilung habe anwerben lassen – sie bekamen achthundert Mark im Monat und zwei Suppen am Tag –, und dank dieses Lohns sei er durch
di schpere
gekommen und habe seine Kinder allesamt behalten dürfen. Er habe drei, erzählte er stolz; alles Mädchen.
     
    Den ganzen langen milden Herbst über zogen Karawanen hungernder Städter an jedem arbeitsfreien Sonntag nach Marysin hinaus. Die meisten waren normale Angestellte aus den Büros und Abteilungen des Gettos, die wie die Familie Schulz von der Obrigkeit begünstigt und zu verantwortungsvollen »Grundbesitzern« geworden waren. Manche schoben Schubkarren vor sich her; andere schleppten Handwagen oder Karren, in denen sie ihre Spaten, Eimer, Heugabeln und Rechen verstaut hatten, eindeutig selbstgefertigt, wie die von Josel und Martin. Es war ein Kampf gegen die Zeit. Bald würde der Winter kommen,
der libe vinter
, wie es im Lied hieß, und die Feldfrüchte, die vor dem Einsetzen des Frostes nicht aus dem Boden geholt waren, würden bis weit ins nächste Jahr dort verbleiben. Falls überhaupt ein neuer Frühling kam.
    Die Familie Gliksman besaß ein eigenes Stück Boden, nicht weit von Familie Schulz entfernt. Von dort hatte Aleks Kürbiskerne mitgebracht, die sie nahe der Mauer säten, nachdem die Kartoffeln aus dem Boden geholt waren.
    Solange sie im Archiv zusammengearbeitet hatten, hatte Věra nie sonderlich auf Aleks’ Aussehen geachtet. Er war stets auf diese schleichende Art aufgetaucht, gewissermaßen quer, von der Seite her; man sah ihn fast nie kommen und gehen. Jetzt bemerkte sie, wie dünn und mager er war. Er trug einen langen Schal um den Hals, und darüber ragten die Ohren hervor wie zwei rote Topfgriffe. Allein die Augen, die sie ansahen, waren dieselben geblieben. Blickten fest und ruhig und neugierig.
    |402| Sie gingen in dem dämmrigen Oktoberlicht die Marysińska hinunter, und so, als wäre es ein ganz gewöhnlicher Tag im Archiv, berichtete er von all den Gerüchten, die er hatte aufschnappen können. Die Alliierten hatten Neapel eingenommen und auf dem italienischen Festland ordentlich Fuß gefasst. Die russischen Truppen näherten sich Kiew und würden die ukrainische Hauptstadt eventuell bald zurückerobern. Und wenn Kiew fiel, wenn die Ukraine fiel, dann war es, das wusste jeder, nur eine Zeitfrage, bevor die Rote Armee am Ufer der Weichsel stand.
    Vielleicht haben wir unsere Befreier schon vor Chanukka hier!
    Er lächelte, doch irgendwie drang das Lächeln nicht bis zu seinen Augen vor. Die Art, wie er Věra ansah, hatte etwas Strenges, Wachsames, so als versuchte er, die Wirkung seiner Worte auf sie abzulesen.
    Ihr Vater hatte sie wiederholt gewarnt, sich jemandem im Getto anzuvertrauen. Verlass dich nicht einmal auf diejenigen, die du kennst.
Der Hunger macht uns alle zu Denunzianten!
    Doch in der seltsam rauchfarbenen Oktoberdämmerung, als sie durch die Obstbaumallee hinter Praszkiers Werkstatt gingen, hatte Věra Aleks dennoch von dem Traum berichtet, den sie auf ihrem Krankenlager gehabt hatte: Wie sie ganz tief im Traum meinte, das Haus in der Brzezińska wiederzusehen, in dem der junge Ingenieur Schmied gewohnt hatte. Ein alter Karren mit abmontiertem Rad hatte dort mit den Deichseln an der Hauswand gelehnt; und wie überall in dem Getto, das es einst gegeben hatte, wimmelte es auch in diesem Viertel von Kindern. Sie standen auf dem Hof, die angewinkelten Arme über die Schultern gehoben, so als stapften sie durch meterhohes Gras, oder saßen im dunklen Eingang der beiden Treppenhäuser: Hunderte Kinder, zwischen Treppenwand und Geländer geklemmt, in Hosenträgerhosen und zerrissenen Blusen, mit rasiertem Schädel, die dünnen, aufgeschürften Knie ans Kinn gepresst.
    Da hatte sie verstanden, das hier war
der Ort.
    Sie hatte es mit der gleichen untrüglichen Sicherheit verstanden, wie sie wusste, in exakt welches Buch sie jene Zeitungsseiten geklebt hatte, die Aleks sie zu archivieren gebeten hatte, und einen schwindelerregenden Augenblick lang verwandelte sich das gesamte Getto in ein einziges Archiv, die gewölbten Innenseiten der Treppenhäuser und die Hofwände |403| vollgeklebt mit Texten und geheimen Mitteilungen; und ganz oben im Haus, in dem Schmied gewohnt hatte, leuchtete noch immer Licht in der Bodenkammer, in der sie gesehen hatte, wie er hinter den herausnehmbaren Ziegelsteinen seinen eigenhändig montierten Rundfunkempfänger versteckte.
    Doch die Kinder im Treppenaufgang versperrten

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