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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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der Ausschankmadam –
pani Wydzielaczka
– handelte
.
Sie kannte man schließlich! Es war diese dicke halbblinde Frau hinterm Ausgabetisch im zweiten Stock, die ihnen tagtäglich die Suppe ausschenkte: mit einem vorsichtigen Schöpfen an der Oberfläche für alle, denen sie misstraute, und einer tiefer fischenden, herrlich platschenden Kelle voll für jene, die sich aus irgendeinem Grund ihren Respekt verdient hatten. Und tief gerührt darüber, selbst ein Teil des Spektakels zu sein, das die fremde Theatergruppe da aufführte, sang das gesamte Publikum mit; zweihundert Kopftuchfrauen wie aus einem Mund –
    Pani vidzelatske: Ich main nischt kajn GELECHTER
    A bisele tifer, A bisele GEDECHTER
11
    – und klapperten und schepperten mit den Löffeln im Suppengeschirr, so dass sich Betriebsleiter Stech die Ohren zuhielt und den Werkmeister bat, die Fabriksirene anzustellen, nur um dem Radau ein Ende zu bereiten.
    Rosa Smoleńska hatte den Klavierstimmer sofort wiedererkannt. Als sie ihn das letzte Mal gesehen hatte, saß er auf einer Leiter und manipulierte die Klingel an der Küchenwand des Grünen Hauses. Jetzt saß er in gleicher Stellung hoch oben auf dem Geländer von Bajglmans Theaterwagen, balancierte dort wie eine Fliege auf dem Rand eines Einmachglases.
    Als die Vorstellung zu Ende war und Herr Gelbroth mit seinem Geigenkasten umherging und Münzen und Brotkanten erbettelte, sprang der Klavierstimmer vom Dach des Wagens und kam mit raschen Schritten direkt auf Fräulein Smoleńska zu. Er hatte einiges zu berichten. Es ging um das Klavier im Grünen Haus. Das noch immer da und in gutem Zustand sei, wie er mitteilen konnte. Das Problem sei nur, dass es nicht mehr zugänglich wäre, da das ganze Haus zum Erholungsheim umfunktioniert worden sei. Doch nicht für irgendwelche Präseskinder, sondern |409| für Herrn Gertlers
eigene Leute
, die dort drinnen nächtelang aus vollem Halse schmetterten und grölten und obendrein nicht spielen könnten. Wie sollte er an das Klavier herankommen, wenn das ganze Haus voll von Gertlers Sonder sei? Könne Fräulein Smoleńska ihm das sagen?
    Kaum hatte er das Wort
Sonder
ausgesprochen, da ging so etwas wie eine Stoßwelle durch die Zuschauer und die jüngsten der Fabrikarbeiterinnen begannen zu schreien:
     
    Lojf, lojf! – der Sonderman kimt!!!
     
    Im Wärterhäuschen hatten zwei der Vorarbeiter die Gefahr erkannt und kamen mit wehenden Kittelschößen herausgestürzt.
Sch, sch!
, schrien sie, so als wären die Frauen eine Schar Hühner, die sich so zurück zu ihren Arbeitstischen scheuchen ließen.
    Ebendiese Einheit der Getto-Sonderabteilung wurde von einem jungen, dürren, hochaufgeschossenen Mann angeführt, der einen leicht schmuddeligen, zumindest zwei Nummern zu großen Nadelstreifenanzug trug. Sein Gesicht unter der Schirmmütze war blass und glänzte, jeder einzelne Knochen und Muskel vom Haaransatz bis zum langen spitzen Kinn war sichtbar.
    Dokumente!
, schrie er Gelbroth zu, der den Geigenkasten umklammerte, als wäre er eine Rettungsweste oder ein Säugling, der um jeden Preis beschützt werden musste.
    Mancher aus dem Publikum war gewiss verwundert, dass dieser jüdische
polizajt
darauf bestand, die Mitglieder der Theatertruppe auf Deutsch anzureden. Rosa Smoleńska indes war nicht verwundert. Seit jenem frühen Sabbatmorgen, als die Gebrüder Kohlman aus dem Kölner Kollektiv bei ihnen angeklopft hatten, zwischen sich den jungen Herrn Samstag hängend, hatte sie mit dem ältesten und vermutlich schwierigsten Kind des Grünen Hauses nie anders als Deutsch geredet. Sie wusste, dass Samstag seitdem gelernt hatte, sowohl Polnisch als auch Jiddisch zu mimen.
Mimen
war genau das richtige Wort. Dasselbe galt für das Deutsch, mit dem er Herrn Gelbroth nun anzusprechen vorgab. Es klang wie das schwülstige Befehls- und Obrigkeitsdeutsch mit eingestreuten polnischen oder jiddischen Wörtern, wie es die
dygnitarzy
|410| des Gettos benutzten, wenn sie sich wichtig machen wollten. Doch Rosa täuschte er nicht.
Beruf? Oder hast du keine Arbeit?
Ich bin Schauspieler.
Was machst du dann hier – du
schojte
– wenn du Schauspieler bist?
Ich habe hier meine gute Arbeit!
Her mal ojf zum schrajin, wir sind nischt afn di szene!
    Der Klavierstimmer hing mit großen Augen an Fräulein Smoleńskas Arm.
    Samstag
, flüsterte er mit beinahe andächtiger Stimme. Von seiner neugewonnenen Befehlshöhe blickte Samstag auf den Klavierstimmer herab, mit einem Lächeln, das wie ein Sack

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