Die Elenden von Lódz
ausgehoben hatten.
Das war der Beginn dessen, was man im Getto
den Bunker
nennen sollte – ein Ort, an dem sich die Toten im Getto aufhalten konnten, |406| ohne mit Menschen verwechselt zu werden, die noch am Leben waren. Auch ein Ort, an dem Leute wie der Klavierstimmer, der unablässig zwischen dem Reich der Toten und dem der Lebenden wechselte, ein wenig zwischen seinen Reisen ausruhen konnten.
Der Klavierstimmer war im Übrigen an wenig Raum gewöhnt.
Während all der Jahre, die vergangen waren, seit er das erste Mal seinen Fuß ins Getto gesetzt hatte, war sein Körper nicht weiter gewachsen, als dass er bei Bedarf noch immer in ein Klavier hineinpasste. Eines Morgens war er auch im Kulturhaus aufgetaucht.
Pinkas, der felscher
hatte auf einer Leiter gestanden und Flockenwolken auf den beständig blauen Kulissenhimmel des Gettos gemalt, als der Klavierstimmer mit seinen beiden abgewetzten Beuteln voller Stimmwerkzeuge auf die Bühne kam und seine zu diesem Zeitpunkt mindestens ebenso blankgewetzte Frage stellte, und Pinkas hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, die Pinsel für eine Antwort aus dem Mund zu nehmen, hatte nur auf den großen Konzertflügel des Kapellmeisters Bajglman gewiesen, und wie ein Tier, das endlich bei seinem Bau angekommen war, hatte der Klavierstimmer den Flügeldeckel geöffnet und war hineingeklettert.
Danach hatte er versucht, sich, wo er nur konnte, nützlich zu machen. An den Abenden, wenn Fräulein Rotsztad als Solistin auftrat, hatte er ihr Instrument auf die Bühne getragen, und den Zwillingen Schum half er beim An- und Ablegen der Bühnenkostüme. Er hatte Eintrittskarten gelocht, die hohen Tieren zu ihren im Voraus reservierten Plätzen an der Bühne geleitet, hatte Aschenbecher geleert und noch im Foyer zurückgebliebene Gäste unterhalten.
Doch dann kam
di grojse schpere
, und als sich Musiker und Schauspieler Anfang Oktober erneut versammelten, war nur noch gut die Hälfte der Orchestermitglieder erschienen, der Kinderchor existierte nicht mehr, und von den Bühnenarbeitern gab es lediglich Herrn Dawidowicz und seinen Handlanger, den unbeholfenen kleinen Herzl (den all die anderen stets gefoppt hatten). Das Kulturhaus, so hieß es, würde von nun an ausschließlich für Preisverleihungen und ähnlich seriöse Zwecke genutzt, nicht für Skandalrevuen. Bajglman war bereit, das Orchester aufzulösen. Auch die Musiker waren entweder zu erschöpft |407| oder von Hunger und Krankheit viel zu mitgenommen, als dass sie überhaupt an ein Weiterspielen zu denken vermochten.
Der Klavierstimmer indes weigerte sich aufzugeben. Er sagte, wenn die Ressortarbeiter nicht mehr zum Theater kommen konnten, musste das Theater eben zu ihnen kommen.
*
Obgleich es im Getto keine Kinderheime mehr gab, hatte Rosa Smoleńska noch immer ihre Anstellung bei der Sozial- und Gesundheitsabteilung. Tagtäglich saß sie in der Dworska in einer versteckten Ecke von Frau Wołks Sekretariat und registrierte Anträge auf Milchersatz für schwangere Frauen oder Extrazuteilungen von rationierten Waren an Tuberkulosepatienten. Ab und an unterwies sie aber in einigen ausgewählten Fabriken auch die Kinder hochgestellter Gettobeamter in Sprache, Rechnen und jüdischer Geschichte. Sie musste sich mit ihren Schülern dort aufhalten, wo gerade Platz war, in staubigen Lagerräumen oder in irgendeinem Verschlag, den der Direktor zur Verfügung stellte, und jederzeit damit rechnen, unterbrochen zu werden, vom Heulen der Fabriksirene, oder wenn eine Sonderbestellung eintraf, aufgrund derer jede verfügbare Arbeitskraft umgehend mobilisiert werden musste.
Es gab allerdings auch lustigere Unterbrechungen. Beispielsweise, wenn der Theaterwagen in der Mittagspause durch die Fabriktore rollte und unter großem Jubel direkt vor dem Wärterhäuschen haltmachte, in dem die Fabrikaufseher zusammen mit den Werkmeistern zu sitzen pflegten.
Es verstand sich von selbst, dass man auf der »Tournee« kaum mehr als ein paar wenige Stücke aus der Gettorevue aufführen konnte; stattdessen ergänzte man seine
plotki
mit verschiedenen Gesangseinlagen.
Frau Harel sang
Das Lied von Berele och Braindele
zu Herrn Gelbroths Begleitung auf der Geige. Im Freien klang die Violinenstimme dünn und zerbrechlich, so als fahre man mit dem Daumennagel über eine Glasscheibe. Da klang es schon besser, wenn die gesamte Truppe anschließend das Couplet
Zip zipele
mit neuem, von Herrn Bajglman |408| persönlich verfasstem Text anstimmte, der von
Weitere Kostenlose Bücher