Die Elenden von Lódz
ihr den Weg. Es war unmöglich, an ihnen vorbeizukommen. Und selbst wenn sie hätte vorbeikommen
können
, hätte ihr die Kraft gefehlt. Vielleicht war das der Grund, warum sie trotz der väterlichen Ermahnungen beschloss, Aleks all das zu erzählen. Allein hätte sie es nie geschafft, bis dort hinaufzukommen.
»Aber den Schlüssel hast du noch?«, fragte er.
Seine Augen waren so groß, dass es schien, als klebten sie an ihr fest.
»Ja, den Schlüssel habe ich«, erwiderte sie und schloss die Hand, genau wie im Traum: die Finger fest um das geschlossen, das sie sich geschworen hatte, nie jemanden sehen zu lassen.
|404| Im Getto gab es also:
Lebende und Tote.
Nur dass die Lebenden nicht notgedrungen unter denjenigen zu finden waren, die Tag für Tag die hohen Holzbrücken des Gettos hinauf- und hinunterstapften. Und die Toten nicht notgedrungen unter denjenigen, die zuvor über dieselben ausgetretenen Treppenstufen gestapft, nun aber aussortiert und fortgebracht worden waren, ohne dass jemand wusste, wohin.
Pinkas Szwarc, oder
Pinkas, der felscher
genannt, war im zum Archiv gehörenden Meldeamt angestellt, wo er mit der Herstellung von Arbeitskarten und Passierscheinen für all jene Juden beschäftigt war, die von den deutschen Behörden noch mit Arbeit versehen wurden.
Pinkas, der felscher
hatte damals, als das Getto noch jung war, auch den Auftrag bekommen, die wertlosen Münzen und Scheine zu gestalten, die als Gettowährung verwendet werden sollten. Und ebenfalls die zumindest ebenso wertlosen Gettobriefmarken. Auf den Briefmarken steht der Älteste mild lächelnd vor einer stilisierten Holzbrücke, die von einem gigantischen Zahnrad umschlossen ist. Das Symbol für Arbeit, Macht und Wohlstand im Getto.
Unser einziger Weg
, et cetera.
Über das Anfertigen der Zahlungsmittel hinaus malte
Pinkas, der felscher
auch die Kulissen für Mojsze Pulavers Gettorevue. Bei einem flüchtigen Blick erschienen diese Bilder möglicherweise harmlos: traditionelle Szenen mit Birken und Wiesen und Weiden oder Gettoexterieurs, Gassen, die zwischen baufällige Häuser und langsam umfallende Straßenlaternen hineinführten. Bei näherer Betrachtung lösten sich aus den Bildern indes seltsame und beunruhigende Details. Hinter einem ländlichen Abort sah ein Teufelskopf hervor. Ein Wagen mit Engeln, die in
schojfer -Hörner
bliesen, zog über eine Schornsteinlandschaft voll qualmenden Rauchs. Auch der Älteste tauchte hier und da in verschiedener |405| Gestalt auf. Als Rabbiner verkleidet, stand er vor einem Badehaus und stopfte protestierende Kinder in eine große Badetonne, oder er watete mit einem Fangnetz in der Hand in einen Fluss hinaus, der voller fischähnlicher Menschen war. Die Gettorevue wurde vom Mai 1940 bis zum August 1942 in insgesamt hundertelf Vorstellungen gegeben, und an sämtlichen Abenden saßen die hohen Tiere des Gettos im Saal und achteten auf unanständige Scherze oder kränkende Anspielungen, derart konzentriert auf die Sätze der Schauspieler, dass sie die gezügelte Revolte, die hinter den Akteuren auf den Bildern stattfand, nie bemerkten.
Als dann der Auftrag kam, die Exponate für die große Industrieausstellung anzufertigen, sah
Pinkas, der felscher
die Chance seines Lebens.
Die Behörden hatten beschlossen, das alte Kinderkrankenhaus in der Łagiewnicka als Ausstellungslokal freizugeben; damit das Gebäude jedoch als dergleichen dienen konnte, musste es zunächst hergerichtet werden. Pinkas ließ seine jüngeren Brüder – beide Tischler – hinzubitten, und gemeinsam machten sie sich daran, den Fußboden im Erdgeschoss des Krankenhauses aufzubrechen und Steine und Erde auszuschachten.
Nun könnte man ja meinen, dass eine solche Arbeit Verdacht erregen müsste; allzu große Berge von Sand und Steinresten an einer einzigen Stelle deuteten schließlich darauf hin, dass etwas im Gange war, was vielleicht nicht sein durfte. Die deutschen Gendarmen aber, die den Bauplatz bewachten, gingen dennoch davon aus, dass alles seine Ordnung hatte. Alles, was innerhalb des Bauzauns geschah, war schließlich bereits an höchster Stelle beschlossen und genehmigt worden. Als die erste Offiziersdelegation der Reichswehr und SS dann die blankgeputzten Vitrinen, vollgepackt mit Muffs, Ohrenschützern, Schneeschuhen und Tarnkleidung, inspizierten, wussten sie also nicht, dass bereits mehr als zwanzig Juden in den drei unterirdischen Kammern hockten, die
Pinkas, der felscher
und seine Brüder unter deren Füßen
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