Die Elenden von Lódz
Und für wen, wenn man fragen darf?
Und der Schnitter mit einem Schulterzucken – als wollte er sagen:
Was weiß denn ich? Für die Mächtigen? Für die mit den breiten Schultern? Für Leute, die glauben, dass sie es verdient hätten, sich zwischen den Atemzügen auszuruhen?
Das aber sagt er nicht. Braucht er auch nicht. Denn Herr Biebow ist bereits mit großen Schritten unterwegs zum Grünen Haus. Und die beiden Sensen folgen ihm. Das hier nimmt interessante Formen an.
Ein Jahr, nachdem es bei der
szpera
-Aktion ausgeräumt wurde, ist von dem alten Kinderheim nicht viel übriggeblieben. Die letzten Reste Farbe, die dem Haus früher seinen Namen gegeben haben, sind längst abgeblättert; vom klobigen Steinsockel hat sich eine Art Fäulnis nach oben ausgebreitet und das Gebälk in eine feuchte, modrige Masse verwandelt. Das Dach ist eingestürzt, und aus mehreren Fenstern sind die Rahmen entfernt, so dass in der Wand nur große schwarze Löcher klaffen. Dennoch hat man vor einige dieser Löcher Gardinen gehängt, und hinter den Gardinen schaut jetzt eine Reihe erschrockener oder aufgebrachter Gesichter hervor.
Biebow hämmert mit der Handkante gegen den Türspiegel, und als wäre das ganze Haus ein lebendiges Wesen, ist plötzlich von tief drinnen ein lautes Jammern zu hören.
Verrückt
, brummelt der alte Schnitter,
völlig verrückt
, und als womöglich noch verrückter gestaltet sich das, was im nächsten Moment geschieht. Denn kaum hat Biebow seine Hand zurückziehen können, als die Tür auch schon mit einem Krachen aufgestoßen wird und ein knappes Dutzend wild flatternder Hühner vor ihm aufstiebt.
Ja, richtige Hühner – echte lebendige Hühner
, bezeugt der Schnitter im Nachhinein, von einer Sorte, die man im Getto schon lange vor Ankunft der Deutschen nicht mehr gesehen hat. Biebow muss sich ebenso erschrocken |429| haben. Er schlägt die Hände vors Gesicht, um sich gegen diese plötzlich herausflatternde Bedrohung zu wehren, und daher dauert es einige Zeit, bis er den massigen Mann erblickt, der jenseits des Flügelschlagens in einer Karre sitzt, den Mund zu einem Schrei geöffnet, ebenso verrückt und entstellt wie er selbst. Ja, so manchem fiele es wohl schwer, in dieser Gestalt Bauch wiederzuerkennen. Nicht zuletzt aufgrund dieses Schreis, den er nunmehr gegen alles und alle richtet, die sich ihm in seiner blinden Erniedrigung nähern. Woher sollte er auch wissen, dass hinter den aufstiebenden Hühnern der Herr Amtsleiter persönlich stand? Er konnte ja nichts sehen. Und Biebow sah ein groteskes, missgestaltes Monster in einer Art klapprigem Holzgefährt, über dessen Rand sämtliche Teile des Körpers quollen, und in der Mitte ein gewaltiger Wanst, blank und blaugeädert, notdürftig mit schmutzigen Fetzen bedeckt, darüber ein entstelltes Gesicht mit blutigem, grindigem Schorf, dort wo die Augen hätten sitzen müssen, und darunter ein Mund – weit aufgerissenes schwabbliges Fleisch –, der ihm voller Wahnsinn entgegenschrie.
Mechanisch wich er zwei Schritte zurück, suchte nach der Waffe im Gurt auf der Innenseite des Jacketts, wie nach etwas zum Festhalten; und als er sie dann zu fassen bekam, leerte er auf der Stelle das gesamte Magazin in die widerliche Kreatur, die von der Kraft der Kugeln nach hinten geschleudert wurde und mit einem platschenden Geräusch gegen die Wand klatschte; und als hätten die Rückstöße auch sie getroffen, stoben die Hühner in alle Richtungen davon: der ganze Himmel einen Augenblick bedeckt von einer Wolke aus Blut und flatternden Federn.
Und nun geschah etwas Seltsames. Es entstand eine Art Stille, die sie allesamt auf einen Schlag zu einer Gruppe vereinte. Biebow ganz vorn mit geleertem Magazin, Kopf und Schultern von Hühnerfedern bedeckt; neben ihm, auch sie in Hühnertracht, Bauchs beide Leibwächter, die seinen Karren rasch zur Tür gestoßen hatten, als es klopfte, weil Bauch trotz aller Risiken, die er damit einging, stets darauf bestand, persönlich zu öffnen; neben den Leibwächtern ihrerseits zwei der jungen Prostituierten, auf deren Begleitung zum Grünen Haus Bauch bestanden hatte und die nun zur Tür gegangen waren, um sich zu zeigen, |430| und dann, außerhalb besagter Tür, die beiden Schnitter, die von Praszkiers Werkstatt mit heruntergekommen waren.
In diesem Augenblick waren sie viele – Biebow aber war allein. Einer von Bauchs Helfern hätte ja Chaja Meyers breites Küchenmesser holen können, das noch in der obersten
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