Die Elenden von Lódz
Haustür, zitternd vor Kälte und Angst. Rosa gab dem Mädchen ihr eigenes Bett und schlief selbst, in ein paar dicke Decken gewickelt, vor dem Herd auf dem schmutzigen Fußboden. In der grauen Morgendämmerung stand Deborah auf, packte ihr Ränzel und verschwand wortlos zu ihrer Arbeit. Am Abend aber war sie wieder zurück in Rosas Wohnung, und sie hatte alle Lebensmittelkarten mitgebracht, und als Zeichen dafür, dass sie die Absicht hatte zu bleiben, ließ sie Rosa die Karten in der Küchenlade einschließen, wo diese ihre eigenen Karten und Talons verwahrte.
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Das hier ist eine Arbeiterstadt, Herr Reichsführer, kein Getto.
Im Jahre 1943 und in der ersten Hälfte des Jahres 44 konnte Hans Biebow auf ein Reich schauen, das einer gut funktionierenden Arbeiterstadt so nahe kam, wie es ein Getto nur konnte. Neunzig Prozent der Bevölkerung arbeiteten in den Fabriken und Werkstätten, die der jämmerliche Rumkowski auf Biebows Befehl hatte errichten lassen. Die Produktion war effektiv, die Einnahmen hoch. Im Jahr zuvor (1942) hatte sich die Gettoverwaltung nach den Abschreibungen insgesamt einen Gewinn von nahezu zehn Millionen Reichsmark gutschreiben können, eine schwindelerregende Summe.
Doch wenn man ein
Musterlager
betrieb, erweckte das auch Neid. Bislang war das Getto der zivilen Administration unterstellt, die SS aber, die unter Himmlers Führung immer mehr einem Staat im Staate glich, unternahm immer zahlreichere und dreistere Versuche, um das lukrative Getto in die Hand zu bekommen. Wenn das Litzmannstadt Getto ein Arbeitslager wäre, könnte es in militärischer Regie bedeutend effektiver betrieben werden, argumentierte man von Seiten der SS. Vom sogenannten Wirtschafts-Verwaltungs-Hauptamt derselben lag bereits ein konkreter Vorschlag vor, demzufolge man das gesamte Getto, den Maschinenpark und alles sonstige Notwendige nach Lublin verlegen sollte, dessen Getto (die Anzahl der Juden gerechnet) fast ebenso groß war, doch nur ein Zehntel so effektiv. Legte man die Gettoindustrie von Lublin und Litzmannstadt zusammen, könnte man Rationalisierungsgewinne in Millionenhöhe erzielen. Die SS hatte ihre Argumente mit Zahlen belegt.
Biebow tat, was er konnte, um die SS und den Reichsführer Himmler fernzuhalten. Er begab sich nach Posen und versicherte sich der weiteren Unterstützung durch die zivile Administration. Er begab sich nach Berlin, traf sich mit Speer und Vertretern des Wehrwirtschafts- und Rüstungsamts, |425| das trotz des massiven Rückzugs im Osten die Auftragsbücher des Gettos mit Bestellungen von Uniformen und Kriegsmaterial füllte. Solange der Kriegseinsatz auf dem jetzigen hochintensiven Niveau weiterlief, würde die Wehrmacht niemals akzeptieren, dass etwas verlegt oder verändert wurde, das zu einem Stopp oder einem Abbruch der Lieferungen führen könnte. Biebow aber wusste, die Sache hing nur an einem seidenen Faden; sollten sich an der Ostfront erneut Misserfolge einstellen, könnte der Führer plötzlich wieder auf Himmler hören und eine Verlegung oder Umstrukturierung des Gettos anordnen.
So war der Krieg, der Biebow in allem Glück gebracht hatte, letzten Endes doch ein zweischneidiges Schwert. In manchen Stunden suchte Biebow der schreckliche Verdacht heim, dass sein ansonsten so sicheres und stabiles Getto auf losem Grund ruhte, dass all das von ihm Erbaute nur äußerer Schein war und ein einziges Wort – ein einziger Federstrich in einer Depesche aus Berlin – genügte, um alles zusammenstürzen zu lassen … So wie Otto Bradfisch, der neue Oberbürgermeister von Litzmannstadt, neulich bei einem Gespräch erklärt hatte, das Getto sei keineswegs ein
Musterlager
, sondern im Gegenteil
eine Schande, Herr Biebow, eine Schande …!
Der ansonsten so kühle und beherrschte Bradfisch hatte seine Faust auf die Polizeiberichte donnern lassen, die sich vor ihm auf dem Schreibtisch stapelten. Biebow wusste sehr wohl, was diese Berichte enthielten, sie informierten über Kripo-Angestellte, die bestochen worden waren, um beim »Schwund« in den Fabriken ein Auge zuzudrücken, und über Beamte seiner eigenen Verwaltung, die sich gegen eine großzügige private Provision darauf einließen, für Neckermanns Modefirmen in Berlin hier Damenunterwäsche anfertigen zu lassen, statt dass man die bereits überfälligen Heeresaufträge fertigstellte; und –
wie ist es möglich, dass sich noch immer Beamte ihrer eigenen Verwaltung von Juden bestechen lassen, wie ist das nur möglich,
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