Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
Vom Netzwerk:
Herr Biebow?
    Und was hilft es da schon, wenn Biebow zu erklären versucht, dass die Fäulnis in der
Natur
der Juden begründet liegt, was er ein ums andere Mal wiederholt (er gibt den Juden die Schuld, obgleich der Diebstahl durch sein eigenes Verwaltungspersonal erfolgt).
Aber dann sorgen Sie doch ein für alle Mal dafür, dass dieser Natur Einhalt geboten wird!
, |426| wendet Bradfisch ein. Biebow sitzt in der Klemme. Egal, was er tut oder nicht tut, er liefert der SS nur weitere Argumente dafür, dass sie die Herrschaft über das Getto übernehmen muss.
    *
    Hier ist also wieder Biebow.
Es ist Hochsommer. Aus dem Gras schicken die Grillen ihr Zirpen in Bögen hinauf zum Hungerhimmel. Unter ihm sind Tausende ausgedörrter gekrümmter Männer und Frauen in ständiger Bewegung. Mit Handwagen und Karren verlassen sie die stinkenden Gettogassen oder stehen in Lehm und Sand am Straßenrand, über Hacken und Spaten gebeugt.
    Biebow aber sieht sie nicht. Sein Fahrzeug hat neben dem windschiefen Holzgebäude haltgemacht, das man im Getto Praszkiers Werkstatt nennt. Sein Fahrer hat den Wagen ein Stück beiseitegefahren und beide Türen weit geöffnet, seine Leibwächter haben im Schatten des Baumes Schutz gesucht. Die Hände auf dem Rücken verschränkt, spaziert er umher und sieht, wie sich der von ihm aufgewirbelte Staub sacht auf die blankpolierten Stiefelspitzen legt.
    Jenseits der Straße, an der Ecke Próżna, Okopowa mähen zwei ältere Männer Gras auf einem Feld. Trotz der glühenden Julihitze sind sie in dicke Jacken gehüllt, deren Futter an den Nähten auf Rücken und Brust, wo der sternförmige gelbe Fetzen sitzt, deutlich hervorquillt. Das Sensenblatt blitzt im Sonnenlicht. Zwischen den beiden steht ein Kanister mit Wasser, den sie unaufhörlich zwischen sich wandern lassen. Plötzlich kommt der eine auf die Idee, Biebow zu rufen.
    Was jetzt? Irgendetwas wird angeboten. Biebow nähert sich unwillig.
    Zwischen eingefallenen Wangen lässt einer der Männer ein zahnloses Lächeln sehen. Hebt den Kanister. Bietet Biebow zu trinken an. Denkt vielleicht, der Herr sei in der Hitze durstig.
    Das ist natürlich absolut unerhört. Ein Jude bietet einem Arier zu trinken an, obendrein dem obersten Vorgesetzten; ganz zu schweigen von etwas so Unhygienischem wie einem einfachen Wasserkanister. Biebow blickt von einem zum anderen – sie stehen unter ihrem Sensenblatt, in ihrem Lächeln eine Art Erwartung –, also kann er nicht umhin, zumindest |427| den Behälterverschluss abzuschrauben und sich mit einer Grimasse über den Mund zu wischen (und Durst hat er, weiß Gott).
    Und dann kommt es natürlich. Der eine Jude fragt mit gespielter Schüchternheit, ob der hohe Herr möglicherweise ein Stück Brot entbehren könne.
    Wie? – Brot? – Brot ist Zuteilungsware. – Ist man ein rechtschaffener Mensch, hat man Talons erhalten und kann sich in seinem Laden Brot abholen.
    Talons habe ich ein ganzes Heft voll, beharrt der Mann, doch was spielt das für eine Rolle, wenn ich mich zur Ausgabestelle schleppe und man dort nur antwortet:
Es ist kein Brot da.
Er lässt die Stimme nett und unterwürfig klingen, wie er meint, dass es deutsche Behördenvertreter von Juden erwarten, und sagt:
    Seit drei Tagen habe ich keine einzige Mahlzeit gehabt.
    Biebow aber bleibt hart:
Hier im Getto gibt es Brot für alle, die bereit sind zu arbeiten.
    Da fasst sich der Mann ein Herz und weist darauf hin, dass er schließlich arbeite, das könne der hohe Herr ja mit eigenen Augen sehen, er und sein Freund Icek haben eine ganze Wiese gemäht, die Futter und Saatgut für den Molkereileiter, die Milchkühe des Herrn Michał Gertler, geben soll. Doch da seien andere, die in ihrem ganzen Leben keinen ehrlichen Handgriff getan hätten. Kamen und gingen nur, diese
schiskes
! – Jaja. – Er wisse Bescheid. – Manche von ihnen fahren sogar in einer
limoussi-iin
.
    Er spricht das Wort aus, als hätte er es wie ein warmes Ei im Mund gehalten.
    Nun hört Biebow plötzlich hin.
Wer
, sagt er nur.
    Der Mann macht eine unklare Handbewegung.
    Biebow:
Und wohin?
    Schnitter:
Wohin?
    Biebow:
Wohin begeben sie sich, die mit der Limousine?
    Schnitter:
Zum Haus dort hinten.
    Biebow:
Was ist das für ein Haus?
    Schnitter:
In früheren Jahren hieß es das Grüne Haus. Jetzt weiß ich nicht, was für eine Art –
    |428| Biebow:
Was für eine Art? Rede, Mann!
    Schnitter:
A pensje.
    Biebow:
A was?
    Schnitter:
Eine Pension.
    Biebow:
Ach tatsächlich, eine Pension.

Weitere Kostenlose Bücher