Die Elenden von Lódz
im Getto bisher nie zuvor gesehene Muskelkraft. Mehrere Polizisten waren vonnöten, um den gewaltigen Leib zu Boden zu ringen, und mehrmals war Bauch kurz davor, sich loszureißen. Gemäß bestimmter Angaben soll sich Samstag mitten im Gefecht durch die Gruppe kämpfender Polizisten gedrängt, Bauchs gewaltigen Stiernacken nach hinten gebogen und ihm dann den Schlagstock über den Kopf gezogen haben, bis das Blut aus dem zerschmetterten Nasenbein spritzte und der sich widersetzende Körper endlich zu Boden ging.
Da soll Bauch versucht haben zu fliehen.
Er kam jedoch nicht weit mit den Augen voller Blut und einem Körper, den er allein nicht vorwärtsbrachte.
Draußen auf dem Hof wurde er von Neuem zu Boden geworfen.
In der Mitte des Hofes stand, wie fast auf allen Gettohöfen, eine |422| Pumpe. Direkt am Pumpenrohr befand sich ein gebogener Eisendorn, an den man die Eimer hängen konnte, wenn man Wasser heraufpumpte. Bauch lag rücklings auf dem Boden unter der Pumpe; sein Gesicht eine wütende Maske aus Blut und Schlamm. Sechs Männer saßen auf seinen Armen und Beinen, damit er nicht hochkam. Nach dem, was bestimmte Zeugen erzählten, soll Samstag nun zu dem Niedergekämpften getreten sein. Aus seinem speichelglänzenden Lächeln heraus soll er gefragt haben, ob Bauch wisse, welche Strafe Männer erwarte, die sich an Kindern vergriffen, die in ihre Obhut gegeben worden seien.
Es ist fraglich, ob Bauch überhaupt verstand, wovon Samstag redete. Seine Kieferknochen mussten von den Schlägen, die Samstag zuvor ausgeteilt hatte, zerschmettert worden sein, denn sein Mund hing schlaff und unkontrolliert herunter, und Speichel und Blut schäumten ungehindert über die zerplatzte Unterlippe.
Zwei von Samstags Männern drehten Bauch die Arme auf den Rücken, um ihn zum Aufstehen zu zwingen. Bauch glaubte vermutlich, dass sie versuchen würden, ihn wegzubringen, und machte seinen Körper deshalb möglichst schwer. Diese Bewegung nutzte Samstag aus, und während die Männer ihr Opfer festhielten, packte er dessen Kopf mit beiden Armen und presste ihn gegen die Pumpe, so dass ihm der breite, aufragende Eisenzapfen direkt ins linke Auge stieß.
Bauch ließ ein geradezu tierisches Gebrüll hören.
Samstags Männer behielten seine Arme fest im Griff. In dem Blutstrom schaukelte das ausgestochene Auge an einem Faden, einem Ei gleich, umgeben von einem fetten, bräunlichen Häutchen. Samstag packte Bauchs Kopf erneut, steuerte dem Rucken des Körpers mit ruhigen, behutsamen, fast liebevollen Bewegungen entgegen – und presste den Kopf dann erneut in Richtung Pumpe. Es ging nun langsamer. Bauch stemmte sich mit allem, was er hatte, dagegen; mit Armen, Beinen, Schultern und Rücken. Samstag indes war geduldig. Ungemein langsam, ab und an durch kurzes intensives Gegenrucken, wenn Bauch fast im Begriff schien, sich loszureißen, glitt der blutige Eisenzapfen auch in sein rechtes Auge.
Und jetzt lag er dort, der ehemals so Allmächtige, wie ein Schlachttier, dem das Blut über das der Sehkraft beraubte Gesicht strömte.
|423| Während dies geschah, hatten sich Neugierige eingefunden. Zunächst Bauchs eigene Untermieter, mehr als zwanzig Kinder und Frauen; dann auch Passanten von der Straße, die den Lärm vernommen hatten und herbeigestürzt waren. Deborah begriff, wenn sie fliehen wollte, musste sie es sofort tun, bevor sich die Polizisten zurückzogen und Bauch fürchterliche Rache nehmen würde. Sie kehrte ins Haus zurück, packte ihre wenigen Habseligkeiten in ihren zerschlissenen Rucksack und watete dann durch den breiten schlammigen Graben zur Straße hinaus. Anschließend irrte sie stundenlang durch die um den Bałucki Rynek gelegenen Viertel und fragte jeden, dem sie begegnete, ob sie möglicherweise wüssten, wo Rosa Smoleńska wohnte.
Die Gettouhr an der Ecke Zawiszy Czarnego, Łagiewnicka zeigte bald fünf. In der heraufziehenden Winterdunkelheit waren die vom Schnee matschigen Gehsteige voller Menschen, die aus den Fabriken und Werkstätten kamen. Einer der Vorübergehenden sagte, ihm sei eine alte Schullehrerin mit Namen Smoleńska bekannt, die im selben Haus wie seine Schwester in der Brzezińska wohne. Deborah werde das Haus leicht erkennen. An der Außenseite befinde sich ein Erker.
Dort, vor dem Treppenaufgang zum Haus mit dem abbröckelnden Erker, fand Rosa Smoleńska, als sie viele Stunden später von der Arbeit heimkehrte, Deborah Żurawska. Das Mädchen hockte zusammengekauert auf der Schwelle der
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