Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
Vom Netzwerk:
eigene Kalesche, und nach vielem Hin und Her glückte es ihm, dieser einen normalen Leiterwagen hinzuzufügen, einen, wie ihn die beiden Schnitter zum Heueinsammeln benutzten.
    Als das Gespann dort eintraf, erwies sich Prinzessin Helena weniger daran interessiert, persönlich evakuiert zu werden, als eine geschützte Freistatt für ihre Vögel zu finden. Sie stand am Schlafzimmerfenster und dirigierte Kuper und die anderen Fuhrleute, bis es ihnen gelungen war, den Wagen vom Kutschbock bis zum Verdeck mit Käfigen voller Stare und Finken zu füllen. Dann kehrte sie zu ihrem Bett zurück und war nicht bereit, sich von dort wegzubewegen, egal, womit man ihr auch drohte. Am Ende mussten die Fuhrleute das Bett mit Helena die schmale, knarrende Treppe des Hauses hinuntertragen, um es anschließend auf den Leiterwagen zu heben und alles ordentlich festzuzurren, damit die kolossale Dame nicht herunterkippte. Darauf wurden auch Koffer, Kisten und Truhen aufgeladen, und die gesamte Equipage begab sich auf den Weg.
    Es war am Nachmittag des 10. Juli 1943: ein drückend schwüler Samstag, gleich einem Kuheuter hing der Himmel prall und blauschwer über den staubigen Gettostraßen. Den ganzen Weg von Marysin zum Bałucki Rynek liefen Bauchs Prostituierte entlang, die Arme dünn wie Streichhölzer und mit vom Hunger aufgedunsenen Leibern. Sie schrien der abgesetzten Prinzessin, die in ihrem Bett auf dem langsam vorwärtsschaukelnden Leiterwagen lag, etwas nach. Doch hinter ihrem Stoffschutz, |435| den ihr jemand aus Barmherzigkeit vor die lichtempfindlichen Augen gebunden hatte, war Prinzessin Helena fast ebenso blind, wie es Bauch gewesen war. Auch hörte sie nichts. Dazu war der Lärm aus all den Vogelkäfigen entschieden zu groß.
    An der Dworska angekommen, wendete das ganze Gespann, ohne anzuhalten, und fuhr anschließend zur Stadtresidenz des Ältesten weiter. Hätten sie sich wider Erwarten hier stoppen lassen, hätten sie Herrn Tausendgelds zerschlagenen Körper im Abfalltümpel an der Ecke schwimmen sehen. Er lag mit dem Gesicht nach unten, den längsten seiner Arm schräg zur Seite gestreckt, so als wollte er auch im Tod nach etwas greifen, das er nie zu fassen bekam.
    *
    Regina Rumkowska würde sich später stets an das letzte Mal erinnern, als sie die Familie Gertler quicklebendig gesehen hatte, die
gesamte
Familie Gertler, gekleidet wie für eine bunte Illustrierte herausgeputzt: die Ehefrau im hellen Baumwollkleid mit Mantel und Hut mit Schleier; die Jungen in kurzen Hosen mit Kniestrümpfen und taillenlangen, mit Taschen besetzten Tweedjacken; die kleine Tochter in ebensolchen Schnürschuhen wie die Mutter und mit einem Hut, der ebenfalls identisch mit dem der Mutter war, bis auf die beiden roten prächtigen Tüllbänder, die hinten an ihrem langen Zopf herunterhingen.
    Der Herr Präses ist nicht daheim
, war alles, was Regina zu dieser mirakulösen Familie zu sagen vermochte, die plötzlich auf ihrer Schwelle stand. Gertler aber zog nur weltmännisch den Hut und berichtete, dass die Familie vorbeigekommen sei, um zu fragen, ob der junge Herr Stanisław oder der
Sohn des Hauses
sich möglicherweise vorstellen könne, seine Ehefrau und die Kinder auf einer kleinen Ausfahrt mit dem Wagen zu begleiten. Er persönlich, sagte er, würde gern ein Stündchen hier bleiben. Er habe ein Anliegen von gewisser Dringlichkeit, über das er mit ihr sprechen wolle.
    Den ganzen Tag über waren Menschen gekommen und gegangen, ein endloser Strom von Leuten, die über die Räumung der Sommerwohnungen in Marysin und über die Frage diskutierten, wer von der Kripo |436| festgenommen und wer noch »verschont« worden war. Um Prinzessin Helenas Bett hatte man Vorhänge drapiert, um sie vor dem Schlimmsten abzuschirmen; doch sobald sie die Stimme ihres Gatten aus dem Stimmengewirr der anderen Männer vernahm, begann sie erneut zu schreien und Befehle zu erteilen.
     
    Józef, kannst du mir meinen Tee bringen, den Doktor Garfinkel verordnet hat?
    Hast du auch die Morellen aus der Miarki mitgebracht; und das Schüsselchen mit Sahne von Michałs Frau?
     
    (Und die Abschirmung um Helenas Bett vermochte auch die Kakophonie nicht zu dämpfen, die aus all den Bauern mit den singenden, schnatternden und lärmenden Staren, Finken und Stieglitzen erklang; ein ganzer zoologischer Garten, der plötzlich die Stelle der menschlichen Gäste eingenommen zu haben schien.)
     
    Nicht Hamburg wird unser nächster Aufenthaltsort, sondern Sosnowiec. Aber

Weitere Kostenlose Bücher