Die Elenden von Lódz
eigenen Worten endlich auf eine Spur ihres verschwundenen Bruders gestoßen war.
Gertler war tot. Vielleicht war er bereits von Anfang an tot gewesen.)
Doch noch saß Regina Rumkowska da und wartete.
Sie saß im Korridor der Wohnung in der Łagiewnicka 61, den Koffer nach Gertlers Instruktion nur mit dem Notwendigsten gepackt, und wartete darauf, dass ein Auto oder ein Wagen oder was auch immer kam, um sie abzuholen. Rings um sie stürzte der Palast ein. Die von Biebow angeordnete Kontrolle aller Büroangestellten hatte bereits begonnen, und Leute der unterschiedlichsten Abteilungen kamen und gingen, und alle bemühten sich um eine Audienz beim Präses, um ihn um »Verschonung« zu bitten: für diesen oder jenen Sohn, den Cousin, den Schwiegervater oder die Schwiegertochter. Zu den vielen Bittenden gehörte auch der Chef der Finanzen vom
landwirtschaftoptejl
des Gettos, Herr |439| Doktor Ehud Gliksman, der im Namen seines Sohnes kam. In den Archiven und Registraturen des Gettos wurden jetzt junge gesunde Büroangestellte zu Arbeitsbrigaden zusammengetrieben, die gemäß Biebows Befehl erneut »nützliche« Arbeit ausführen sollten, in Radogoszcz oder wo auch immer nützliche Arbeit erwünscht war. Pinkas Szwarc,
der felscher
, wurde einberufen, um in aller Schnelle die neuen, mit einem Foto versehenen Arbeitskarten anzufertigen, mit denen diese neuen Arbeiter laut Biebows Anweisung auszustatten waren, und sobald sie die neuen Ausweispapiere in Händen hielten, ließ man sie in langen Kolonnen nach Marysin hinausmarschieren, angeführt von jüdischen
polizajten
, die sie mit großer Inbrunst beschimpften:
Ir parasitn, wos hobn gelebt fun unds ale teg,
izt is zajt zu grobn in dem schajs!
Rirt sich ad di polkes, ir chasejrim!
12
(
Herr Gliksman:
Aber mein Sohn ist ein Intellektueller, er ist für schwere körperliche Arbeit nicht geschaffen.
Ältester
: Glauben Sie mir, Herr Gliksman; gegen den Beschluss der Behörden vermag nicht einmal ich etwas zu tun;
nicht einmal ich
, Herr Gliksman!)
*
Nach wenigen Stunden war der Junge von der ablenkenden Spazierfahrt mit Frau Gertler zurückgekehrt, doch niemand hatte Zeit gehabt, sich um ihn zu kümmern. Fräulein Dora Fuchs hatte notdürftig zwei voneinander unabhängige Warteschlangen für jene Bittsteller gebildet, die sich die Mühe gemacht hatten, den ganzen Weg vom Sekretariat bis zur »privaten« Wohnung des Ältesten zu kommen. Im Salon lag Prinzessin Helena hinter den Vorhängen, die man um ihr Bett drapiert hatte. Doktor Garfinkel hatte ihr eine Dosis Morphium verabreicht, doch schien |440| das nicht viel geholfen zu haben. Sie lag auf dem Rücken und fuchtelte mit den Armen, um wirklichen oder eingebildeten Vögeln zu entkommen, während Frau Koszmar auf einem Schemel stand und mit Hilfe einer Kehrschaufel versuchte, jene Exemplare loszubekommen, die sich in den Gardinen verfangen hatten.
Am Ende schlief Prinzessin Helena ein. Staszek lüftete den Vorhang und sah ihren Kopf wie abgetrennt auf den Kissen liegen, die große spitze Nase ragte zwischen den aufgedunsenen Wangen empor, wie zwischen zwei Ballonsegeln. Er hätte am liebsten ein Loch in diese Wangen gestochen, doch das wagte er nicht. Stattdessen zog er sich wieder ins Zimmer zurück. Unter den Vögeln war es seltsam still geworden – so als wäre ihnen erst jetzt aufgegangen, dass man sie woanders hingebracht hatte.
In einer Ecke des Raumes stand die Schneiderpuppe, ein fast fertiger Anzug war ihr über die kopflosen Schultern gestülpt; Staszek zog eine der langen Nadeln heraus, die die Stoffteile an der Puppe festhielten. Er hockte sich neben einen der Käfige. Im Bauer saß ein weißer Papagei, ein Kakadu mit aufgeplustertem Federkleid. Staszek versuchte mit ihm zu sprechen. Der Vogel starrte ihn unter seiner weißen Stirnlocke aber nur stumm an, drehte ihm dann mit verächtlich wiegenden Bewegungen den Rücken zu. Ein offenbar träger, arroganter Vogel. Staszek fuhr mit der langen Nadel zwischen die Stangen und sah verwundert, wie die Spitze knapp unterhalb des Vogelkopfes eindrang. Das Tier zuckte zusammen und versuchte davonzuflattern. Als Staszek die Nadel wieder herauszog, zeichnete ein dünner Blutfaden einen schönen roten Pinselstrich über den weißen Federbausch. Der Vogel selbst schien umherzuwanken; er hob die Flügel, wie um davonzufliegen, konnte jedoch die rechte Schwinge nicht heben. Seine Augen starrten den Jungen erschrocken und ohne Vorwurf an, während sein
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