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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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vielleicht lässt sich das Schicksal Ihres Bruders von dort ebenso gut erforschen. Frau Rumkowska, ich glaube, dass ich auf eine Spur gestoßen bin.
     
    Dawid Gertler beugte sich vor und bot ihr eine Zigarette aus einem flachen Silberetui an, dessen Deckel er mit dem Nagel des kleinen Fingers öffnete. Sie starrte ihn nur an. Nun verstand sie plötzlich, warum Gertler sich selbst, seine Frau und all seine Kinder derart herausgeputzt hatte. Sie waren allesamt im Begriff, das Getto zu verlassen.
     
    Sie müssen nur Geduld haben und warten, Frau Rumkowska.
     
    Es war das letzte Mal, dass sie ihn sah. Am 13. Juli 1943.
    Ein Weilchen später packte sie ihren Koffer mit ihrer wenigen noch verbliebenen Habe, einschließlich Pass und Examenszeugnis, und machte sich zum Warten bereit.
    Am darauffolgenden Tag, dem 14. Juli gegen fünf Uhr nachmittags, |437| fuhren zwei Wagen mit Poznań-Kennzeichen beim Schilderhaus vor dem Gestapohauptquartier in der Limanowskiego vor, in dem auch die Sonderabteilung des Gettos ihren Sitz hatte. Die Autos blieben mit laufendem Motor im Inneren der Absperrung stehen. Kurz darauf wurde Gertler zwischen zwei Polizeibeamten in Zivil herausgeführt. Dahinter erschienen weitere Gestapoleute, die Arme vollgepackt mit Kartons, Ordnern, Kästen und anderem offensichtlich konfisziertem Material. Einige Angestellte aus dem Sekretariat des Herrn Präses, die Zeugen des Vorfalls waren, hörten, wie Gertler im selben Augenblick, als er ins Auto steigen sollte, einen der Beamten in Zivil fragte, ob sie glaubten, genügend Material beisammenzuhaben, oder es vorzögen, auch seine Privatwohnung zu durchsuchen, und wie der deutsche Polizeioffizier erklärte, dass er und seine Männer momentan alles hätten, was sie brauchten. Kurz darauf fuhren die beiden Wagen durch die Tore am Bałucki Rynek, wo die Gendarmen der Wachmannschaft pflichtschuldigst salutierten; darauf weiter die Limanowskiego hinunter und aus dem Getto hinaus.
     
    An den folgenden Tagen versammelten sich Menschen am Bałucki Rynek, da sich im Getto allabendlich das Gerücht verbreitete, Gertler wäre alsbald zurück. Zwei Wochen lang strömten die Leute Abend für Abend herbei, um ihn zu empfangen. Und die Zahl der Wartenden nahm unentwegt zu; an manchen Tagen drängten sich bis zu fünfhundert Männer mit hoffnungsvollen Gesichtern unter der Gettouhr an der Straßenecke Zawiszy Czarnego, Łagiewnicka. Das Gerücht wusste zu berichten, dass Gertler im selben, in Poznań registrierten Wagen eintreffen würde, der ihn fortgebracht hatte, und dass er im selben Augenblick, wenn das Auto »die Tore des Gettos enterte«, den Eingeweihten durch die Heckscheibe des Wagens ein besonderes »Zeichen« geben würde.
    Das Gerücht über die Rückkehr Gertlers war mitunter hartnäckiger und detaillierter als alles, was nun über den Grund seiner erzwungenen Abreise gesagt wurde.
    Auch Regina Rumkowska träumte mehrmals, dass Dawid Gertler zurückkam. In den meisten ihrer Träume war er bereits tot. Sie konnte nicht erklären, woher sie wusste, dass er tot war, nur, dass sie sofort |438| verstand, dass dort ein toter Mann hinter der blanken Scheibe der SS-Limousine saß, die zur Nachtzeit mit ausgeschalteten Scheinwerfern unter den Holzbrücken ins Getto rollte, und der dann ausstieg und der Ehrengarde aus seinem eigenen Sonderkommando, die angetreten war, um ihn willkommen zu heißen, den Gruß entbot. Auch die Männer der Ehrengarde waren tot. In Wahrheit waren alle im Getto tot. Am Bazarowa-Platz hingen noch die Leichen der vierzehn Diebe und Aufrührer, die die Deutschen hatten hinrichten lassen (jede mit einem Schild um den Hals mit der Aufschrift:
Ich bin Jude und ein Verräter an meinem eigenen Volk
), und der tote Gertler schob die Leichen wie Laken auf einer Wäscheleine beiseite, betrat dann das Haus an der Limanowskiego, um in den Büroräumen im ersten Stock mit seinen Vertrauten zu konferieren; das Licht aus den Bürofenstern, die zum Hof des Gestapogebäudes lagen, war das Einzige, das im Getto brannte, und es brannte die ganze Nacht. (Und bereits als sie diesen Traum über sich selbst und eine Viertelmillion anderer Toter träumte, sollte sie denken, dass ebendas vermutlich der Grund war, warum Gertler sich Tag und Nacht mit solcher Leichtigkeit über die Gettogrenzen hatte bewegen können. Auch warum seine Familie so unglaublich gutgekleidet und kultiviert erschienen war. Ja, vielleicht war es sogar die Erklärung dafür, dass er nach

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