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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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darauf wartete, dass ihn die Straßenbahn zurück ins Getto brachte.
    Morgengrauen. An der Haltestelle Podolska hatte sich eine Anzahl vollkommen normaler Polen und Volksdeutscher eingefunden. Alle starrten auf den gelben Stern, den er auf Brust und Rücken seines Mantels trug. Sollte ein Jude mit ihnen Straßenbahn fahren? Und was machte überhaupt ein Jude außerhalb der Mauern und Zäune des Gettos? Der Herr Amtsleiter hatte ihm indes nicht nur gesagt, er solle die Straßenbahn nehmen, sondern ihm auch Geld für die Fahrkarte gegeben, und als die Straßenbahn dann kam, tat Rumkowski das, was mehr als alles andere verboten war. Er – ein simpler Jude! – stieg ein, und niemand hinderte ihn. Er stieg nicht in den deutschen, sondern in den polnischen Wagen und starrte auf die Türen, die sich auf geradezu wunderbar geschmeidige Weise öffneten und schlossen, um andere Polen herein- oder herauszulassen. Der Wagen war bald proppenvoll. Doch ganz hinten, dort, wo er saß, blieb es leer. Er hatte Hunger. In der Manteltasche steckten noch die beiden Zwiebacke aus der Teedose von Dora Fuchs. Aber er wagte sie nicht anzurühren. Er wagte sich überhaupt nicht zu rühren.
    |455| Dann schloss sich der Bretter– und Stacheldrahtzaun dichter um sie, und die Straßenbahn begann den »toten« arischen Korridor längs der Zgierska hinaufzuklettern. Einer der Passagiere musste zu diesem Zeitpunkt doch mit dem Fahrer gesprochen haben, denn am Bałucki Rynek hielt die Straßenbahn gegen alle Regeln an, und der Älteste konnte aussteigen. Und die Straßenbahn bimmelte und fuhr erneut los, hinter den erleuchteten Fenstern entsetzt starrende Gesichter, und der Älteste ging zu seinem Getto, und unterdessen dachte er an Biebow und das Versprechen, das dieser ihm gegeben hatte:
     
    Aber gute Arbeiter – musterhafte Arbeiter müssen es sein.

 
    |456| Späterhin sollte es geteilte Meinungen darüber geben, wann die letzten Deportationen aus dem Getto eigentlich begonnen hatten. Ob es im Juni 1944 war, als Oberbürgermeister Otto Bradfisch die Anweisung zur endgültigen Räumung des Gettos erteilte, oder bereits Anfang Februar, als die Behörden plötzlich verlangten, dass sich 1500 gesunde kräftige Männer »zur Arbeit nach außerhalb des Gettos« registrieren lassen sollten. (Eine Anweisung, die, als sie nicht unverzüglich befolgt wurde, auf 1600 Mann und dann auf 1700 erhöht wurde.) Oder begannen die Deportationen womöglich schon an jenem graukalten diesigen Dezembermorgen 1943, als sich der Herr Präses, nachdem er ganze zwei Tage spurlos aus dem Getto verschwunden war, beim deutschen Wachtposten am Bałucki Rynek meldete?
    Er war mit leeren Händen gekommen, doch etwas brachte er bestimmt dennoch mit, das er bei seinem Fortgang noch nicht besessen hatte.
    Davon jedenfalls war so mancher überzeugt.
    Nun galt Rumkowski ja noch nie als ein Mann, der auf der faulen Haut lag, wenn es darauf ankam, dieses oder jenes ins Lot zu bringen. Kaum zwei Stunden, nachdem er mit der Straßenbahn am Bałucki Rynek eingetroffen war, besuchte er den Betrieb Sonnabend in der Jakuba 12. Dort hatten die Schuster aus Protest gegen die in der Werkstatt herrschenden miserablen Bedingungen soeben die Arbeit niedergelegt und sich geweigert, die Suppe zu essen, obgleich Direktor Sonnabend bettelte und bat. Kaum war Rumkowski durchs Fabriktor getreten, als er auch schon auf einen der Streikenden zuging und ihn zu Boden schlug. Die restlichen Schuster bestrafte er, indem er ihre Arbeitszeit allabendlich um zwei Stunden verlängerte, und den Anstifter der Aktion ließ er ins Zentralgefängnis schaffen, wo er vor allen anderen Gefangenen verprügelt wurde.
    |457| Eine Methode, die sich während des gesamten Frühjahrs wiederholen sollte. Hatte man auch nur das kleinste Stück Hanfseil, ein paar Schrauben oder Muttern gestohlen, landete man ohne Pardon im Zentralgefängnis. In früheren Jahren wäre es eine Katastrophe gewesen, hätten im Getto derart viele arbeitstaugliche Personen hinter Gittern gesessen. Nun aber war die Situation eine andere. Bei einer Gefängnisinspektion in einer der ersten Wochen des neuen Kalenderjahres nannte der Älteste »seine« Gefangenen ein
Depot brauchbaren Menschenmaterials
, das als
Reserve
für schlechte Zeiten dienen konnte. Im Getto grübelte man viel darüber nach, was der Präses damit wohl gemeint haben könnte, vor allem, was sich hinter den schlechten Zeiten verbarg. Kurz darauf wurde dann die Neuigkeit verkündet,

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