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Die Elenden von Lódz

Die Elenden von Lódz

Titel: Die Elenden von Lódz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Sem-Sandberg
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zu gelangen. Wie konnten sich zwei Arbeiter übereinstimmend bücken, um jeder an seinem Ende einen breiten Bretterstapel anzuheben, während ein dritter Mann zwischen zwei starken Uniformarmen an ihnen vorbei hinausgetragen wurde, mit zerschlagenem, blutendem Kopf. Und niemand sah es, niemand nahm Notiz davon.
    Aus dieser unbegreiflichen Landschaft von Lärm und Stille kam nun Bajglmans Wagen auf störrisch knarrenden Radachsen angefahren.
    Der Klavierstimmer, der seiner Gewohnheit getreu balancierend weit hinten auf dem Requisitenberg saß, sprang auf den Fabrikhof hinunter und schlug die Plane mit so übertriebenen Bewegungen zur Seite, als hätte er soeben einen Bühnenvorhang gelüftet. Hinter einer roten |462| Stoffdraperie stand ein Piano, und obenauf und rundum lehnten und lagen Tuben und Posaunen, die Schalltrichter von Matratzenstücken oder alter Sofapolsterung erstickt und die blanken Ventile und Haltehaken gleich verkühlten Kindern in schmutzige Fetzen gewickelt. Ein Kontrabass im Wachstuchgewand. Geigen in ihren Kästen, übereinandergestapelt wie Särge.
    Das Gesicht des Klavierstimmers hatte etwas Raubtierhaftes, als er von dem deutschen Jugendorchester berichtete, ausschließlich bestehend aus Hitlerjugend, das vor ein paar Wochen in Litzmannstadt gegründet worden sei und dessen Leiter verlangt habe, dass das reiche
Judengebiet
der Stadt sie mit Instrumenten auszustatten habe. Gleich nach Empfang dieser »Offerte« hatte Biebow dem Präses befohlen, ein Dekret zu erlassen, demzufolge alle Musikinstrumente des Gettos unverzüglich zum Ankauf am Bleicherweg abzuliefern waren. Ein deutscher Taxator war von Litzmannstadt herübergeschickt worden. Dieser hatte die Instrumente in drei Gruppen eingeteilt – wertlose, unbrauchbare und akzeptable – und sich ausschließlich bereitgefunden, ein paar symbolische Mark für die Letztgenannten zu bezahlen. Und Kapellmeister Bajglman hatte wohl nie so viele Tränen vergossen wie in dem Moment, als eine Violine, gebaut von einem Schüler des Meisters Guarneri aus dem 18. Jahrhundert, mehrere tausend Mark wert, ihm für zwanzig und ein paar wertlose Rumkies aus den Händen genommen wurde.
    Dass Menschen hungern und sterben oder zusammengeholt und deportiert werden, lässt sich wohl ertragen.
    Aber was tut man gegen die Stille, was tut man gegen all diese entsetzliche Stille?
    *
    Am 9. März ist Purim. Es ist auch Chaim Rumkowskis Geburtstag. Doch der Präses des Gettos hütet an diesem Tag das Bett und lässt ausrichten, dass er keine Besuche empfängt, dass man indes gern Geburtstagsglückwünsche per Post schicken könne. Diese sollten dann mit den speziellen Briefmarken frankiert werden, die
Pinkas, der felscher
zu Ehren des doppelten Festtags herstellen ließ.
    |463| Es scheint, als hätte der Präses zu einem Teil seiner früheren Allüren zurückgefunden.
    Bajgelmans Theatergruppe muss in diesem Jahr auf instrumentale Geburtstagsehrungen verzichten, da es im Getto keine Instrumente mehr gibt. Frau Grosz muss ihren Lobgesang stattdessen begleitet von dem, was noch zur Hand ist, vortragen: Holzhammer, vibrierende Blattsäge,
menażki
und klappernde Besenstile. Danach setzt Jakub Wajsberg mit ein paar von Fabian Zajtmans Puppen ein improvisiertes Purimspiel in Szene. Er benutzt den Karrenrand als Bühnenboden und die knallrote Tarndraperie um Bajgelmans Klavier als Vorhang, den man hochziehen und herunterlassen kann.
    Der hungernde Rabbiner von Włodawa stellt den
lojfer
dar, jene Figur, die die Vorstellung zu präsentieren hat. Der hungernde Rabbiner von Włodawa war eine von Fabian Zajtmans Lieblingspuppen. Wohin er mit seinem Puppentheater auch fuhr, stets nahm er den hungernden Rabbiner mit, und manchmal präsentierte der hungernde Rabbiner die gesamte Vorstellung, manchmal war er nur einer der Teilnehmer des Spiels.
    Der hungernde Rabbiner von Włodawa wohnt in einer Bodenkammer ganz oben in der Synagoge der Stadt, mit schrägen Wänden, Bett, kleinem Tisch und Holzofen. Von dieser erhöhten Position aus – auf der Bühne kann man ihn nun das Fenster der Bodenkammer erklimmen sehen – erklärt er, zwanzig Jahre sei er schon als Rabbi in Włodawa tätig und habe in dieser Zeit nicht ein Stückchen Brot zu essen bekommen. Als er den Gemeindeältesten fragt, warum man ihm nie etwas Brot gebe, antwortet der Älteste, es liege daran, dass die Herrschenden in der
kehilla,
der Stadt, das, was er predigt, nicht mögen. Doch der hungernde Rabbiner von Włodawa

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