Die Elenden von Lódz
bereits ab, als Rumkowski in den ersten Tagen |448| der
szpera
-Aktion in höchstem Maße heldenmütig auftrat und sich weigerte, jene Handlungen vorzunehmen, deren Ausführung ihm von den Behörden befohlen worden war. Doch Held oder Verräter? Retter oder Henker? Vielleicht spielte das auf die Dauer keine Rolle. Rumkowski
war
das Getto. Was er auch tat, welche oder wie viele Juden er auch rettete oder zu retten unterließ, so war die Bühne des Verrats doch die einzige, die für ihn errichtet worden war. Seine einzige Aufgabe bestand darin, auf diese Bühne zu treten, wenn die Zeit dafür reif war und die Obrigkeit es befahl.
Aus der Gettochronik
Litzmannstadt Getto, Dienstag, den 14. Dezember 1943:
Gegen 11.30 Uhr verbreitete sich im Getto lauffeuerartig das Gerücht:
Der Präses ist von der Gestapo geholt worden.
Der Vorgang soll sich folgendermaßen abgespielt haben. Gegen 9.30 Uhr erschien ein Fahrzeug der Geheimen Staatspolizei aus Posen am Baluter Ring. Zwei Herren, der eine in Zivil, der andere in Uniform, betraten das Vorzimmer des Ältesten und ließen sich bei ihm melden.
»Sind Sie der Judenälteste …? Wie heißen Sie?« Der Präses nannte seinen Namen, worauf die Polizeibeamten sein Arbeitszimmer betraten und sagten: »Lassen Sie uns unter vier Augen reden.« Die beiden beim Ältesten zu jenem Zeitpunkt anwesenden Männer, Mosze Karo und Eliasz Tabaksblat, empfahlen sich sofort.
Die Unterredung der beiden Beamten mit dem Ältesten währte ungefähr zwei Stunden. Um 11.30 Uhr begab sich der Präses dann in Begleitung der beiden Herren von der Geheimen Staatspolizei in Richtung Stadt.
Zunächst war sich niemand im Getto der Bedeutung dieses Vorfalls voll bewusst. Erst als der Präses um 7 Uhr abends noch immer nicht zurückgekehrt war, begann das Herz des Gettos heftig zu klopfen. Überall standen Gruppen von Menschen zusammen und besprachen erregt das Ereignis.
Wagen und Pferd des Präses standen wie stets vor seinem Büro und warteten bis in die Nachtstunden, ohne dass eine Nachricht gekommen |449| wäre. Viele wollten wissen, dass der Älteste nach Posen gebracht worden war.
Beim Verlassen des Baluter Rings hatte der Präses gerade noch die Möglichkeit gehabt, dem zufällig anwesenden Doktor (Viktor) Miller zu sagen: »Wenn etwas passieren sollte, denk daran, es geht um Fragen der Lebensmittelverteilung. Um nichts anderes als das.« Der Präses hatte sehr gefasst gewirkt.
In diesen schweren Stunden erinnerten sich viele an die Gertler-Affäre. Doch die Unterschiede zwischen den beiden Fällen sind groß. Gertler war eine populäre Persönlichkeit im Getto, in diesem Fall aber – darin waren sich alle ausnahmslos einig – betraf es den Vater des Gettos selbst. Allen saß die Angst in den Knochen. Noch nie hatten die Menschen so deutlich die unleugbare Tatsache empfunden:
Rumkowski ist das Getto!
Kaum einer konnte in dieser Nacht ruhig schlafen. Eine weitere Beunruhigung verursachte der Umstand, dass auch Amtsleiter Biebow in die Stadt berufen worden war und selbst von ihm keine Nachricht eintraf. Unter Umständen wie diesen, was kann man anderes tun, als abzuwarten?
Lediglich einem kleinen Kreis Eingeweihter sollte der Älteste später berichten, was sich in den zwei Tagen, in denen er aus dem Getto verschwunden war, ereignet hatte. Zunächst hatte er geglaubt, die beiden Gestapobeamten hätten ihn in das Büro der Gettoverwaltung in der Moltkestraße gebracht, doch als er im Nachhinein über den Vorfall berichtete, war er sich dessen nicht mehr sicher. Er erinnerte sich als Einziges deutlich daran, dass die Türflügel, durch die man ihn geführt hatte, derart hoch waren, dass man nicht sehen konnte, wie weit sie zur Decke hinaufreichten, und dass die Stuckornamente oben allesamt mit Gold verkleidet schienen. Man hatte ihn in einen großen Raum geführt, in dem an einem langen Tisch fünf »hohe Herren« saßen. Die grünen Lampenschirme hingen so dicht über der Tischplatte, dass der im Lampenlicht schwebende Rauch die Gesichter dahinter verdunkelte. Er hatte kein einziges von ihnen erkennen können, obgleich die Männer in diesem Augenblick (so sagte er) die Blicke allesamt auf ihn gerichtet hielten.
|450| Ein Adjutant hatte die Stiefelabsätze zusammengeknallt und geschrien:
Heil Hitler!
Er selbst hatte dagestanden, wie er immer stand, die Hände an der Hosennaht, den Kopf gesenkt:
Rumkowski!
Ich melde mich gehorsamst!
Aus dem Augenwinkel hatte er dennoch
Weitere Kostenlose Bücher